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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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wirklich Sorgen wegen unserer Klassenreise zu machen hatte, dann die beiden. Es gab kaum einen Tag, an dem sie nicht den Spötteleien einer der drei führenden Cliquen ausgesetzt waren, an dem nicht ihr Sportzeug in den Bäumen des Schulhofs hing, Götterspeise in ihren Schultaschen schwabbelte, Popel oder sonst welche Flecken auf ihren Stühlen klebten oder eines von den vielen anderen Dingen geschah, die sich jene, die sich unangreifbar wähnten, in ihrer kreativen Grausamkeit unermüdlich ausdachten.
    »Ich überlege noch, ob ich nicht auf krank mache oder so«, sagte Arndt in der Geschwindigkeit, in der wir Playmobilfiguren anordneten. Er zog die Stirn kraus. »Ich glaube nicht, dass mir die Reise Spaß machen wird.«
    Ich nickte langsam, ein wenig verblüfft ob der Tatsache, wasfür ein unarndtiger Redefluss hier auf mich einprasselte. Aber solche Gedanken hatte ich mir auch schon gemacht. Andererseits freute ich mich darauf, das Elsass zu sehen und, vor allem, zu riechen, erstmals Frankreich zu betreten, und wenn ich ehrlich zu mir war, fand ich es beruhigend, Mama für vierzehn Tage nicht um mich zu haben.
     
    Jene vier Monate, die dem Juli 1980 folgten, gehörten zu den grauenhaftesten meines Lebens. Mama fiel erst in eine katatonische Starre, der bald eine quälend ruhige Traurigkeit folgte, die nur von langen Monologen unterbrochen wurde, die hauptsächlich aus Selbstvorwürfen bestanden. Mehr als einmal in diesen ersten Wochen packte sie unsere Sachen, weil sie mit mir zu einem der Grenzkontrollpunkte fahren wollte, um die Rückreise in die DDR anzutreten; Tante Gisela und Onkel Gerhard hatten alle Mühe, ihr diese wahnwitzige Idee immer wieder auszureden. Danach kam eine Phase der Wut, die fast bis zum Jahresende andauerte. In dieser Zeit kochte sie zwei, drei Mal am Tag über, bekam cholerische Anfälle, während derer sie in Sekundenschnelle ihre Blusen durchschwitzte. Sie schlug ziellos um sich, traf sich auch selbst, zerriss die Kleidungsstücke, an denen sie gerade nähte, sprang auf und rannte durch die Wohnung, schreiend und weinend zugleich. Am schlimmsten aber war, dass sie manchmal abends fortging und erst am frühen Morgen zurück in unser Doppelbett kroch, und die Gerüche, die ihr dann anhafteten, hätte wirklich jeder richtig zuordnen können: Rauch und sehr, sehr viel Alkohol. Einmal aber, zum Glück nur ein einziges Mal, kam es besonders hart, da hatte sie, als sie schwer atmend unter die Decke rutschte, diesen besonderen Duft an sich. Ich ertrug es nicht, stieg mit der Hand vor dem Mund aus dem Bett und schloss mich im Badezimmer ein, wo ich bis zum Morgen leise heulend in der Wanne saß.
    Während dieser ganzen Zeit wagte ich es nicht, sie zu fragen, warum zur Hölle wir das überhaupt getan hatten. Ich versuchte, mir Antworten zurechtzulegen, fand aber keine, die auch nur halbwegs plausibel waren.
     
    Von Papa oder Sonja erfuhren wir nichts. Mamas, vor allem aber Giselas Bemühungen, jemanden zu erreichen, der etwas wusste, versandeten. Tante Cordi hatte nach wie vor von beiden nichts gehört, erzählte dann, dass unser Haus geräumt sei, und bei einem der nächsten Anrufe – sie teilte den Anschluss mit einem Nachbarn – verbat sie sich energisch weitere, wollte auch nicht mehr mit ihrer Schwägerin sprechen. Nie wieder. Das rief sie so laut, dass sogar ich es hören konnte, der drei Meter entfernt von meiner Tante saß, die keine war. Gisela versuchte es weiter, drängte Freunde, die Verwandte in der DDR besuchten, sich umzuhören, sprach mit Vertretern von Parteien, Menschenrechtsorganisationen und Regierung, aber es brachte alles nichts. Mein Vater und meine Schwester blieben verschollen. Jürgen und seine Frau waren ebenfalls nicht zu erreichen, und als diese Nachricht bei uns ankam, griff Mama wortlos nach ihrem Mantel, verließ die Wohnung, schloss zaghaft die Tür und kehrte erst am nächsten Mittag sturzbetrunken zurück. Sie sah aus wie eine Puppe, die man überfahren hatte. Die Kleider hingen an ihr, die Reste der wenigen Kosmetik, die sie sich gönnte, waren verschmiert, und ihre Haare standen ab oder klebten schweißnass im Gesicht. Als sie Stunden später halbwegs nüchtern erwachte, entschuldigte sie sich bei mir, drückte fortwährend meine Hände und Unterarme, zog mich immer wieder an sich und bat flehend um Verzeihung. Ich wiederholte ständig, dass ich ihr verzeihen würde, doch ich log. Ich hielt meine Mutter, meine Eltern zwar nicht für alleine verantwortlich

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