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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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niederregnete. Gerald stank, wie alle hier, nach Schweiß, einer Variante, die eine leichte Moschusnote hatte, und außerdem nach dem Parfüm »Lagerfeld«, das überhaupt nicht zu ihm passte. Genau genommen passte dieser völlig maßlose Duft zu niemandem.
     
    Gerry war praktisch der Chef unserer Klasse, der Meinungs- und Rädelsführer, aber ich verstand nach wie vor nicht, warum das so war – er hatte diese Position bereits inne, als ich dazustieß. Gut, sein Selbstbewusstsein, das an maßlose Selbstüberschätzung grenzte, war enorm ausgeprägt, aber seine schulischen Leistungen waren Mittelmaß, er war fast so eine Niete wie ich beim Sport – trotzdem wurde er immer relativ schnell in Mannschaften gewählt –, und er sah nicht einmal gut aus. Unter einer sehr hohen Stirn, die in braunschwarze, unordentliche Locken überging, hatte er zusammengewachsene Brauen über schmalen, leicht geschlitzten, hellbraunen Augen. Sein Gesicht war kantig, aber unspektakulär, seine Arme wirkten zu lang, und er war mit eins fünfundachtzig viel zu groß für seine Statur. Was Gerry auszeichnete, war die Lautstärke, in der er sich äußerte und die sämtliche Aufmerksamkeit sofort auf ihn fokussierte. Außerdem protestierte er ständig, gegen alles und jeden, widersprach den Lehrern, den Mitschülern, die als Schiedsrichter beim Schulsport fungierten – es gab immer etwas, zu dem er eine abweichende, persönliche Meinung hatte.
    »Hallo, Gerry«, formte ich mit den Lippen und lächelte. Es war zu laut, um etwas sagen zu können.
    Er beugte sich noch weiter zu mir herunter, sein Mund berührte mein Ohr, und er brüllte: »Das wird eine coole Klassenfahrt, dicker Ostler.«
    Dann schob er seinen Oberköper an mir vorbei, legte Chrissie eine Hand in den Nacken und zog ihr Gesicht an seines heran, küsste sie lange und energisch; sie ließ es über sich ergehen. Er schaffte es, mich dabei anzusehen, herausfordernd, herablassend, siegessicher. Bösartig.
    Keine Ahnung, warum genau, aber in diesem Augenblick musste ich an eine Unterhaltungssendung aus dem DDR-Fernsehen denken: »Außenseiter – Spitzenreiter.«
    Ich lächelte Gerry an und nickte dabei. Er blinzelte, löste sich von Chrissie, schickte sich an, zu seinem Platz zurückzukehren, hielt dann aber inne. Das Stück endete. In das Intro von »Flashdance« sagte er: »Falk. Was ist das eigentlich für ein bescheuerter Name?« Er grinste, hielt das vermutlich für einen äußerst
coolen
Spruch, aber ich nickte nur weiter.

Flammkuchen (1983)
     
    Bei Kehl am Rhein verließen wir die Autobahn, überquerten den mächtigen Fluss und näherten uns der Grenze zu Frankreich. Wenn ich richtig rechnete, stand mir mein fünfter Grenzübertritt bevor, aber es war der erste als Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Ich nestelte nach meinem Ausweis, einem grünen Ding mit Kunstledereinband, dessen Geruch entfernt an die beiden Männer erinnerte, die uns vor der Abfahrt nach Ungarn mehrfach besucht hatten.
    Der Fahrer schaltete die Musik ab, was Proteste aus dem im Zigarettenqualm versinkenden Heck des Busses provozierte. Frau Erdt, die jetzt wirklich derangiert aussah, stand auf, klammerte sich mühevoll an eine Kunstlederschlinge, die von der Decke herabhing, und rief mit gequälter Stimme: »Bitte holt eure Ausweise raus, und benehmt euch wenigstens für ein paar Minuten anständig«, was von hinten mit lautstarkem Gejohle quittiert wurde.
    Erst betraten deutsche Grenzbeamte den Bus, kurz danach französische, jeweils zwei, alle trugen Uniformen, unter denen sie stark transpirierten, aber sie verströmten außerdem leicht ölige Gerüche, die ich nicht einzuordnen wusste. Die beiden Franzosen rochen außerdem nach Käse und Alkohol, aber ich fürchtete mich dennoch vor ihnen, immer mehr, je näher sie meiner Sitzreihe kamen. Vielleicht lag es daran, dass ihre Uniformen denjenigen der tschechoslowakischen Grenzer ähnelten, vielleicht aber auch wurde mir erst in diesem Augenblick bewusst, dass ich in den kommenden vierzehn Tagen dieser Horde von Irren ausgesetzt sein würde, fernab von zu Hause. Ich zwang mich zu einem Lächeln, als derGrenzbeamte neben mir stand, war merkwürdigerweise kurz versucht, den Freundschaftsgruß der FDJ zu präsentieren, aber er sagte nur kurz »Bonjour« (eigentlich nuschelte er nur: »Jour«), warf einen ebenso kurzen Blick in unsere Papiere und widmete sich dann der nächsten Reihe. Christine grinste mich an, als wisse sie, was in mir vorging, aber ihr

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