Sommerhit: Roman (German Edition)
Dort hatte sie nächtelang wach neben ihrem Sohn gelegen und Mordpläne geschmiedet, die sie aber immer wieder verwarf – allein aus Liebe zu ihrem Kind. Ein paar Wochen später dann wurde die Leitung des Heimes ausgetauscht, ihr Pflegevater verschwand praktisch über Nacht. Sie hatte seitdem nie wieder etwas von ihm gehört. Noch im selben Jahr zog sie mit Michael nach Kühlungsborn. Kurz nach den Ereignissen vom November 1989 erzählte dann eine ehemalige Kollegin, die inzwischen in Berlin arbeitete und gelegentlich zum Wochenende an die Ostsee kam, dass er sich umgebracht hätte.
Ich schlief in dieser Nacht neben meiner Schwester in ihrem kleinen Bett. Versuchte es wenigstens. Stundenlang sah ich sie an, im fahlgelben Licht der Straßenlaterne, und ich zitterte noch immer, als ich am Sonntagmorgen erwachte.
Lügen sind nie für immer (1993)
Die Redakteurin schlug ihre schwarzbestrumpften, durchaus bemerkenswerten Beine übereinander und lehnte sich im Sessel zurück. Sie war vielleicht Mitte zwanzig, recht klein, aber auch grazil – und sehr attraktiv. Natürlich wusste sie davon und kokettierte offensiv damit, und es war vermutlich einer der Gründe, weshalb man sie bei
DRUMS! Das deutsche Rock-Magazin
eingestellt hatte. Eitle Musiker sind so berechenbar.
»Was machen Sie? Was ist das eigentlich? Sind Sie Liedermacher, Chansonnier, ein sanfter Rocker, Singer-Songwriter, vielleicht sogar ein Schlagersänger?«
»Ich bin Musiker, sonst nichts.«
Sie lächelte schmal. »Sie werden sich doch einer Stilrichtung zugehörig fühlen, oder?«
»Tue ich das? Ich bin nicht Cohen oder Dylan und auch nicht Biermann, Grönemeyer, Westernhagen oder Mey, und obwohl ich diese Musiker verehre, fühle ich mich keinem Einzelnen davon besonders nah, eher allen zusammen – und nicht nur ihnen.«
»Sie rebellieren also gegen das Schubladendenken?«
Ich räusperte mich und nahm einen Schluck Kaffee.
»Genres und Kategorisierungen sind Hilfskonstrukte, um Musik leichter unter die Leute bringen zu können. Wer das gekauft hat, dem kann man auch das andere verkaufen – vielleicht wird das irgendwann automatisch funktionieren, wenn die Computer besser werden. Du magst Springsteen, also können wir dir auch John Mellencamp andrehen, und nachdenken musst du nicht mehr. Im Ergebnis rückt der Tellerrand inimmer weitere Ferne. Ich verstehe nicht, warum Menschen diesem Zwang so gerne folgen.«
Sie kam nicht auf den naheliegenden Einwand, dass viele Künstler exakt auf diesen Effekt setzten, um im Fahrwasser anderer leichter voranzukommen.
»Also Crossover?«
Ich lachte. »Über Kreuz? Was mit wem?«
»Sie kennen den Begriff nicht?«
»Natürlich kenne ich ihn, aber er steht auch wieder für etwas Spezielles. Ich will niemand sein, den man auf Ewigkeiten an einer bestimmten Richtung festmacht. Wer etwas zu sagen hat, dem sollte nicht die Möglichkeit genommen werden, die Form des Ausdrucks zu variieren.«
»Das sagen Sie am Anfang Ihrer Solokarriere. Wer weiß, wie Sie in zehn Jahren darüber denken.«
Ich versuchte, die Stirn kraus zu ziehen, manchmal klappte es ansatzweise. »Da mögen Sie recht haben, aber vorläufig lasse ich mir meinen Optimismus nicht nehmen.«
Sie wechselte die Beinposition und beobachtete mich dabei genau. Ich tat ihr den Gefallen und folgte den nylonumschlossenen Schenkeln mit meinem Blick.
»Reden wir über ›Klasse‹. Das Album ist ein echter Longseller, aber niemals über Platz 60 der Charts hinausgekommen.«
»Platz 56. Und es war vor zwei Wochen wieder mal in den Top 100.«
Die junge Redakteurin hüstelte. Sie beherrschte all das wirklich schon perfekt, wofür sie meine Hochachtung hatte. »Das letzte Minka-Album, an dem Sie mitgewirkt haben, stand vier Wochen lang auf Platz eins und ist nach nur zweieinhalb Monaten …
vergoldet
worden.«
»Ein toller Erfolg.«
»Viele Songs waren von Ihnen. Stört es Sie nicht, dass Ihr Debüt im Vergleich nur ein Achtungserfolg war?«
»Es ist weit mehr als das. Ich weiß nicht genau, wie oft sich ›Gold‹ verkauft hat« – das stimmte nicht, ich wusste es
ganz genau
, aus den Tantiemenabrechnungen – »aber am Jahresende 1990 war es aus den Charts und ist auch nicht wieder eingestiegen. ›Klasse‹ verkauft sich seit drei Jahren kontinuierlich gut.«
»Wollen Sie …«
»Außerdem spielt das keine Rolle, ich vergleiche mich nicht mit Minka«, unterbrach ich sie, vor allem, weil ich mich darüber ärgerte, dass wir über Minka sprachen,
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