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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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nicht, dass du bei Jürgen … in Verwahrung warst.« Auch Sonja wusste nicht, was ich vor einem Jahr von György erfahren hatte, aber möglicherweise ahnte sie es längst.
    »Spielt auch keine so große Rolle«, sagte sie und drückte meine Hand. »Tut mir leid, das mit dem Ahnunghaben. Ist natürlich Unsinn.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt, später, nie – was spielt das für eine Rolle? Nimmst du mich an der Hand? Alleine schaffe ich es nicht.«
    »Natürlich.«
    Wir gingen zusammen in den äußerst stillen Raum zurück. Das Gesicht unserer Mutter lag auf der Schulter ihres Mannes. Als sie jetzt spürte, dass ein Ruck durch ihn ging, richtete sie sich auf.
    Sonja setzte sich neben mich, starrte geradeaus. Ein Kellner kam, um zu fragen, ob wir bereit für den Hauptgang wären. Meine Schwester bestellte einen großen Cognac.
    »Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich«, sagte Karen plötzlich.
    »Findest du?«, fragte ich und tat erstaunt.
    »Er hat mehr von Mama, und ich habe mehr von Papa«, sagte Sonja leise. »Bei ihm sieht man das seit dem … Unfall sogar noch besser, finde ich.«
    Von unserer Mutter erklang ein langes, abgrundtiefes Seufzen. Erst jetzt drehte sich Sonja zu ihr um.
    »Hallo, Mama.«
    »
Sonni
.« Alles in einem Wort. Liebeserklärung, Bitte um Vergebung, Jahrzehnte der Trauer, Selbstvorwürfe, panische Angst, unbändige Freude.
    »Alles Gute zum Geburtstag nachträglich. Und dir natürlich auch, Brüderchen.«
    Meine Eltern standen auf, Sonja stand auf. Es ähnelte jenem Moment, wenn wir aus einem Bühneneingang traten. Die Fans standen da, glaubten irgendwie immer noch nicht, dass wir tatsächlich einfach so, wie ganz normale Menschen, aus einer Tür kamen, und sie wollten uns näher sein, uns berühren, aber sie wagten es nicht, wichen sogar noch ein wenig zurück, wenn wir uns auf sie zubewegten. Dabei ist es außerordentlich schwer, jemanden durch eine Berührung zu verletzen, jedenfalls äußerlich.
    »Du darfst mich umarmen, Mutter.«

Sommerhit (1998)
     
    Dieses Stück führte zum ersten ernsthaften Streit zwischen György und mir. Seit Beginn unserer Beziehung verlangte er, dass ich ihm alles zur Kenntnis gab, was ich schrieb und komponierte oder sogar in meinem kleinen Studio aufnahm. Es hatte damals vier ganze Tage in Anspruch genommen, ihm mit schmerzenden Fingern all die Stücke vorzuspielen, die ich mir vor »Klasse« ausgedacht hatte. Und György hatte von Anfang an ein verlässliches Gespür dafür besessen, unter all diesem Murks mehr als ein Dutzend Songs zu entdecken, die sich entwickeln ließen.
    Das Lied aber, das zum Streit führte, war spätnachts nach dem Besuch der Bar eines Kölner Vier-Sterne-Hotels entstanden, nachdem ich zwei Stunden lang mit einem Promoter, einem PR-Menschen meiner Plattenfirma und drei jungen Herren von einer möglicherweise demnächst sehr erfolgreichen Elektro-Kapelle namens
Technopinq
zusammengesessen hatte. Die drei Jungs mit ihren gegelten, merkwürdig streng gescheitelten Frisuren, dem aufeinander abgestimmten Teint, den lässigen, schwarzen Shirts mit extrem kleingedruckten, kryptischen Parolen (»Fuck the who cares«) und den viel zu großen, noch lässigeren weißen Leinenhosen, schwallten mich ununterbrochen voll, ohne ihre Ablehnung meiner Musik auch nur ansatzweise zu verhehlen – oder mich gar zu Wort kommen zu lassen, woran ich allerdings auch nicht sehr interessiert war, obwohl ich bisher mindestens einhundert Prozent mehr Platten verkauft hatte als sie. In ihre Äußerungen flochten sie ununterbrochen Anglizismen ein, »cool« war mit großem Abstand das beherrschende Wort, aber sie deutschten auch englische Verbenein, sprachen von »producen«, »composen«, »performen« und »arrangen« – und fanden sich dabei offenbar fantastisch. Idiotenenglisch ist die Fachsprache der Nichtskönner.
    Nachdem ich mich dann irgendwann auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, schrieb ich den Text für ein sehr simples Stück, »Cool sein«, ein Lied mit einer sehr einfachen Botschaft, die davon handelte, dass es doch ziemlich dumm war, sein ganzes Leben darauf auszurichten, anderen zu gefallen, indem man sich damit abmüht, immer noch ein bisschen lässiger, trendiger, abgebrühter zu sein, statt einfach nur dem nachzugeben, was sich in einem befindet, und selbst glücklich zu sein. Um einen leicht wechselnden, drei Mal wiederholten Refrain strickte ich drei sechszeilige Strophen. Am nächsten Tag legte ich, immer noch beeindruckt vom Abend, eine

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