Sommerkind
Liebe, ein Spiegelbild ihrer Liebe gewesen, und die Leute hatten stets das warme und innige Verhältnis bestaunt, das sie und Eddie auch nach zwanzig Jahren Ehe noch vereinte. Jetzt staunte niemand mehr.
Grace belegte zwei Sandwiches für ein ihr unbekanntes Pärchen. In letzter Zeit umgab sie sich lieber mit Fremden, mit Menschen, die sie nicht kannten und die nichts von alldem wussten, was sie in den letzten Monaten durchgemacht hatte. Sie wollte kein Mitleid. Und am wenigsten wollte sie darüber reden. Denn wenn sie reden müsste, würde sie in winzige Stücke zerspringen. Und das konnte sie sich nicht erlauben.
Ihre Stammkunden sorgten sich um sie. Darüber, wie dünn sie geworden war und wie zerbrechlich sie schien, körperlich wie seelisch. Sie kommentierten ihre Blässe und ihre Zerstreutheit. Wenige Wochen zuvor hatte sie eine Unterhaltung zwischen zwei ihrer Kunden mit angehört. Einer hatte gesagt: “Grace ist gerade einfach nicht sie selbst”, und das war inzwischen ihr Mantra geworden. Wann immer sie sich dabei ertappte, etwas für sie Untypisches zu denken oder zu tun – was in letzter Zeit häufig vorkam –, hörte sie die Stimme in ihrem Kopf:
Grace ist gerade einfach nicht sie selbst.
Sie hörte Eddie in dem kleinen, hinter dem Tresenbereich gelegenen Büro am Computer schreiben und dachte darüber nach, wie viele der Stammgäste wohl von ihren Beziehungsproblemen wussten. Man musste es einfach merken. An die Stelle der einst fröhlichen Atmosphäre des “Beachside Café” war eine fast greifbare Spannung zwischen Eddie und ihr getreten. Vielen Kunden war auch bekannt, dass sie das Apartment über der Garage bezogen hatte, das die beiden für gewöhnlich an Sommertouristen vermieteten. Wie genau die Leute davon Wind bekommen hatten, konnte sie sich zwar nicht erklären. Doch da es in dem Touristenort Rodanthe nur wenige Einheimische gab, erfuhr man eben schnell und detailliert von den Angelegenheiten der anderen. Und natürlich kannte jeder die Gründe für die Veränderungen, die in ihr und ihrer Ehe vorgegangen waren.
“Grace?” Eddie steckte den Kopf durch die Tür. “Telefon.”
Grace trocknete sich die Hände am Handtuch unter der Theke ab und ging ins Büro. Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand.
“Ich passe so lange vorne auf”, sagte er im Rausgehen.
Sie nickte, sah ihm jedoch nicht in die Augen. Als er draußen war, hob sie den Hörer ans Ohr. “Hallo?”
“Hallo Grace, hier ist Bonnie.”
“Bonnie!” Es gab nur einen Menschen, mit dem Grace zurzeit sprechen konnte, und das war Bonnie, ihre älteste und liebste Freundin. Doch Bonnie rief nur selten an. Sie lebte in San Diego und schrieb ein-, zweimal im Monat einen Brief oder eine E-Mail. Zum Telefon griff sie so gut wie nie, und genau deshalb war Grace beunruhigt. “Ist alles in Ordnung?”, fragte sie.
“Hier ist alles bestens”, antwortete Bonnie. “Aber ich wollte mal hören, wie es bei dir so aussieht.”
“Ach, weißt du …” Grace setzte sich auf den Schreibtischstuhl und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Die letzten Wochen waren anstrengend.”
“Ich würde dir so gern irgendwie helfen. Und ich befürchte, dass mein Anruf alles nur noch verschlimmert. Aber ich wollte, dass du …”
“Ich weiß wirklich nicht, wie du die Sache noch verschlimmern könntest, Bon”, unterbrach Grace sie.
Bonnie zögerte. “Sagt dir der Name Rory Taylor was?”, fragte sie endlich.
“Aber sicher. 'True Life Stories'.”
“Genau. Nun ja, ich habe in einem dieser Käseblätter aus Hollywood geschmökert, und da stand so ein winziger Artikel – den hätte ich fast übersehen. Darin hieß es, dass er diesen Sommer in Kill Devil Hills verbringt.”
Grace zog die Stirn kraus. Was in aller Welt ging sie das an? “Und?”, fragte sie.
“Er ist dort …” Bonnie atmete schwer. “Er ist dort, um dem Geheimnis um das Baby auf den Grund zu gehen, das vor zweiundzwanzig Jahren am Strand von Kill Devil Hills gefunden wurde. Er will darüber in seiner Sendung berichten.”
Grace schwieg. Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. “Wozu?”, fragte sie. Obwohl sie sich um Haltung bemühte, bebte ihre Stimme.
“Genau weiß ich das nicht”, antwortete Bonnie. “Aber normalerweise lüftet er in seiner Show Geheimnisse. Zum Beispiel, wer die Mutter des Babys ist.”
Grace schloss die Augen. “Ich habe in letzter Zeit wirklich oft an dieses Baby gedacht.”
“Das weiß ich doch”, säuselte Bonnie.
“Warum
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