Sommerkind
gern gewusst, in welcher Beziehungsphase sie sich befanden. Er sprach davon, verliebt zu sein, erwähnte jedoch keine intimen Details, über die Daria liebend gern mehr erfahren hätte und die sie sich zugleich um keinen Preis vorstellen wollte. Sie hatte seinen hinreißenden Sohn Zack kennengelernt, der dem Rory von damals dermaßen ähnlich sah, dass es ihr Probleme bereitet hatte, ihm in die Augen zu sehen. Als sie so hinter Rory herradelte, musste sie sich eingestehen, dass sie wieder einen guten Kumpel mehr hatte. Großartig.
Am Pier war erstaunlich wenig Betrieb für diese Jahreszeit, doch einen so herrlichen Tag verbrachte vermutlich jeder am Strand. Sie brachten die Ausrüstung zum Ende des Stegs, platzierten einen Fischkopf in der Falle und ließen sie dann ins Wasser. Rory machte einen weiteren Fischkopf an einer Schnur fest und ließ ihn seitlich am Steg hinunter. Mit verzogenem Gesicht wischte er sich die Hand an einem Tuch ab. “Ist schon ein Weilchen her, seit ich zum letzten Mal einen Fischkopf in der Hand hatte”, erklärte er.
“Mach dir nichts vor”, meinte sie. “Du kannst nicht einen Nachmittag lang Krebse fangen und dann nach Hause gehen, ohne wie ein Fischverkäufer zu riechen.”
Sie saßen nebeneinander auf dem Steg und ließen die Beine über dem Wasser baumeln. Neben kleinen Sportkatamaranen und Jollen war die Bucht übersät mit Windsurfern, und weit draußen schwebte ein Parasegler hoch über dem Meer.
“Verrückt”, sagte Rory. “Für eine Sekunde habe ich mich wieder gefühlt wie ein Kind – wie damals, als wir hier zusammen saßen. Und als ich dann nach unten geschaut und diese Erwachsenenbeine gesehen habe, habe ich mich ganz schön erschreckt.”
Sie lächelte in sich hinein. Er hatte beim Anblick ihrer Beine also Erwachsenenbeine gesehen, mehr nicht. Vermutlich waren ihm Graces grazilen weißen Beine tausendmal lieber als ihre gebräunten und durchtrainierten.
Rory holte eine Dose Cola aus seiner Strandtasche und reichte sie ihr.
“Danke.” Sie öffnete sie vorsichtig.
“Und”, fragte Rory nach dem ersten Schluck, “woran erinnerst du dich, wenn du an den Morgen zurückdenkst, als du Shelly gefunden hast?”
Daria war zutiefst enttäuscht. In den Gesprächen der letzten Woche hatte Rory dieses Thema nicht angesprochen, und sie war über seinen vermeintlichen Sinneswandel froh gewesen. Nun fühlte sie sich verraten. Verbrachte er deshalb seine Zeit mit ihr? Um sie für seine Sendung über Shelly auszuhorchen?
“Ich will dir dabei nicht helfen, Rory”, sagte sie. “Du weißt genau, dass ich es nicht gut finde, wenn du alles wieder aufwühlst. Ich halte es nach wie vor für einen Fehler.”
Einen Moment lang herrschte Stille. “Ich wollte mich nur unterhalten”, meinte er dann.
“Wolltest du nicht.”
“Jawohl. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie du zu 'Supergirl' wurdest. Eine elfjährige Heldin. Ich kannte kein anderes Kind, mich eingeschlossen, das fähig gewesen wäre, ein blutverschmiertes Baby auf den Arm zu nehmen und nach Hause zu bringen. Ich wäre nach Hause gerannt und hätte meine Mutter geholt. Und bis wir zurück gewesen wären, hätte das Baby wahrscheinlich nicht mehr gelebt.”
Sie hatte wohl überreagiert, und deshalb beschloss sie, ihm etwas entgegenzukommen. “Dass ich Shelly gefunden habe, hat mein Leben verändert”, begann sie. “In vielerlei Hinsicht. Ich habe den Ernst des Lebens quasi über Nacht kennengelernt. Ich wusste nicht, was die Plazenta war – ich ekelte mich sogar davor. Aber als mir meine Mutter erklärte, dass sie für die Versorgung des Babys im Mutterleib zuständig ist, war ich fasziniert. Damals stand für mich fest, dass ich Ärztin werden und mich auf Geburtshilfe spezialisieren wollte. Dieses Gefühl, als ich das kleine Bündel im Arm hielt, war so besonders, dass ich es unbedingt wieder erleben wollte.” Schon lange hatte Daria nicht mehr daran gedacht, nicht bewusst jedenfalls, aber die Erinnerung an das neugeborene Kind, das sie, selbst noch ein Kind, in ihren Händen gehalten hatte, saß nach all den Jahren immer noch tief in ihrem Herzen.
“Und was ist dann passiert?”, wollte Rory wissen. “Wieso bist du keine Ärztin geworden?”
“Ich wollte es wirklich. Ich war Feuer und Flamme und habe im College sogar vormedizinische Kurse belegt. Aber dann wurde Mom krank. Ein schnell wachsendes Dickdarmkarzinom. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin nach Hause gefahren. Mom hatte
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