Sommerkind
Gründe auseinandergelebt haben. Ich denke nicht gern daran zurück.” Ihn schauderte. “Die Zeit, in der Polly vollkommen unverschuldet zwischen den Fronten stand, war einfach schrecklich. In dieser Phase ist sie auch gestorben, und ich denke nach wie vor, dass der Stress, den ihr das Leben mit Glorianne und mir bereitete, einen großen Teil dazu beigetragen hat.”
Daria legte die Hand auf seinen Arm. “Ich finde, ganz gleich welche Umstände bei euch herrschten – es war besser für sie, bei dir zu sein, als nach dem Tod eurer Eltern alleingelassen zu werden. Meinst du nicht?”
“Doch, ich glaube schon”, antwortete er. “Ich hoffe es.” Als er aufs Meer hinausblickte, sah sie, wie sich die Segelboote in den Gläsern seiner Sonnenbrille spiegelten. Über den Augenbrauen zerknitterten zwei feine Linien seine Stirn, und sie verspürte das Verlangen, sie zu berühren, zu glätten.
“Du bist ein guter Mensch”, sagte sie sanft. “Ich wünschte zwar, du wärst nicht so versessen darauf, in Shellys Vergangenheit zu bohren, aber ich freue mich trotzdem, dass du diesen Sommer hier bist.”
Er lächelte. “Ich mich auch.”
“Ich mache mir übrigens
natürlich
Gedanken um Shellys Zukunft”, meinte sie. “Wird sie ein Leben lang die Kirchenräume sauber halten? Die Sache mit dem Schmuck hat ihrem Selbstbewusstsein zwar einen längst überfälligen Schub gegeben. Doch auch davon kann sie nicht leben. Ich weiß, eigentlich sollte sie eine Berufsausbildung machen, aber hier gibt es einfach nichts.”
“Kann sie die Outer Banks denn überhaupt nicht verlassen?”
“Ihr Arzt ist in Elizabeth City. Aber sie dreht jedes Mal vollkommen durch, wenn sie dorthin muss. Er verschreibt ihr immer Beruhigungsmittel, weil sie in seiner Praxis so unruhig ist. Er begreift einfach nicht, dass sie hier in Kill Devil Hills absolut entspannt ist.”
“Wie ist es, wenn ein Unwetter aufzieht und ihr evakuiert werdet? Shelly sagt, sie hasst es; aber manchmal lässt es sich doch nicht umgehen, oder?”
Daria lachte laut auf. “Sie versteckt sich. Einmal habe ich sie nach langer Suche in der Vorratskammer gefunden, und vor ein paar Jahren hat sie sich in einem benachbarten Cottage versteckt, das bereits evakuiert war.”
“Die arme Shelly”, sagte Rory.
“In so vielen Dingen ist sie immer noch wie ein kleines Mädchen. Sie interessiert sich noch nicht einmal für Männer, aber darüber bin ich wirklich froh. Sonst müsste ich mich auch noch um die Verhütung kümmern.”
Rory runzelte die Stirn. “Selbst Polly hat sich für Männer und Sex interessiert. Bist du dir bei Shelly ganz sicher?”
“Vor einigen Jahren hatte sie mal was mit verschiedenen Typen – nicht die angenehmsten Zeitgenossen. Ich war besorgt, dass sie sie nur ausnutzen wollten.” Sie erinnerte sich noch an einen, der sie überreden wollte, ihm einen Fernseher zu kaufen. “Ich habe sie jedes Mal auseinandergebracht. Damals war Shelly natürlich stocksauer auf mich, aber ich glaube, jetzt ist sie froh, sich nicht mit einem Freund herumschlagen zu müssen.”
“Im tiefsten Inneren – wer, glaubst du, hat Shelly vor zweiundzwanzig Jahren am Strand ausgesetzt?”
Sie sah ihn ungläubig an. “Du bist unverbesserlich.”
“Ich meine es ernst”, beharrte er. “Glaubst du, es war jemand aus der Sackgasse oder …”
“Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich bin sicher, dass es Cindy Trump war”, unterbrach sie ihn. “Ich habe Shelly direkt vor ihrem Haus gefunden. Für Cindy wäre es ein Leichtes gewesen, aus der Hintertür zu treten, das Baby nah ans Meer zu legen, zu hoffen, die Wellen würden es wegspülen, und wieder ins Haus zu gehen. Fertig.”
“Und wo ist Cindy?”
“Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Shelly ist eine Cato, Rory. Cindy, oder wer auch immer ihre leibliche Mutter ist, wollte sie damals nicht. Und deshalb verdient sie es auch jetzt nicht, an ihrem Leben teilzuhaben.”
Auf einmal wanderte ihr Blick zu einer Frau, die unweit des Piers auf die Bucht zuging, und erst als Daria die Golden Retriever erspähte, erkannte sie Linda. Noch bevor Linda den Stock ins Wasser warf, rannten die Hunde übermütig hinein.
“Das ist Linda”, sagte sie zu Rory.
Rory drehte sich zu der Frau um. “Ich habe sie schon kennengelernt. Und einer ihrer Hunde hat einen Narren an mir gefressen. Sie hat sich ganz schön verändert.”
Daria konnte sich kaum noch an das schüchterne Mädchen von damals erinnern. Die Linda von
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