Sommerkind
anderen Frauen. Sie war schon immer anders gewesen: Sie sorgte für ihre Schwester, kleidete sich nachlässig und arbeitete als Tischlerin. Chloe pflegte zu sagen, ihr fehle das “Hübschmach-Hormon”, und vermutlich hatte sie recht. Aber das hieß natürlich nicht, dass sie keine Sehnsüchte hatte. Und der Mann, nach dem sie sich am meisten sehnte, saß gerade direkt neben ihr. “Männer neigen dazu, mich als ihren Kumpel zu sehen”, sagte sie.
“Das kann ich gar nicht verstehen. Du bist hübsch, klug, sportlich und interessant.”
“Danke.” Obwohl sie zu verbergen versuchte, wie viel ihr diese Worte aus seinem Mund bedeuteten, schoss ihr das Blut in die Wangen.
“Aber irgendwie ergibt es auch einen Sinn”, widerrief Rory seine Aussage. “Du bist geradeheraus und spielst keine Spielchen, so wie viele andere Frauen es tun. So wie auch Grace es tut, fürchte ich. In gewisser Weise kann ich also nachvollziehen, warum dich die Typen manchmal behandeln, als wärst du einer von ihnen.”
“Na ja, ich war aber auch nicht die ganze Zeit allein.” Sie wollte das verzerrte Bild, das er nun von ihr haben könnte, unbedingt wieder geradebiegen. “Ich hatte schon die eine oder andere … Geschichte.” Ein besserer Ausdruck fiel ihr für die Männer, mit denen sie zusammen war, nicht ein. Sie konnte sich noch gut an den Mann erinnern, der sie im Alter von zwanzig entjungfert hatte. Nur wenige Tage nach diesem bedeutsamen Ereignis hatte er sie für eine hübsche gezierte Achtzehnjährige verlassen, und Daria war überzeugt gewesen, dass ihre magere Vorstellung im Bett ihn dazu veranlasst hatte. Nach dieser Erfahrung hatte sie sich jahrelang vor Sex gefürchtet. Sie würde Rory nichts von diesem Kerl erzählen.
“Mit einem hatte ich eine recht lange Beziehung”, erzählte sie. “Ich habe ihn mit dreiundzwanzig kennengelernt, gleich nachdem ich hier hergezogen war, und wir waren mehrere Jahre zusammen. Er wollte mich überreden, den Tischlerjob aufzugeben, Kleider zu tragen und roten Lippenstift aufzutragen. Überflüssig zu sagen, dass wir uns viel gestritten haben. Letztlich ist er weggezogen. Mit siebenundzwanzig habe ich Pete kennengelernt. Der berüchtigte Verlobte, von dem Shelly dir erzählt hat. Er war Tischler und Rettungsassistent. Von daher waren wir in den meisten Dingen einer Meinung und haben uns lange Zeit prima verstanden.”
“Und dann?”
“Shelly war ein Problem für uns. So wie Polly für dich und deine Exfrau. Pete sagte, ich würde mein Leben nach Shelly richten. Er wollte, dass ich …”, Daria schüttelte den Kopf, “… alle Verbindungen zu ihr kappe. Oder sie zumindest nicht länger bei mir wohnen lasse.”
“Ich kann mir kaum vorstellen, dass du das gemacht hättest.”
“Nein. Das wollte ich auf keinen Fall. Am Anfang war das alles überhaupt kein Problem. Shelly war erst sechzehn, als Pete und ich uns kennenlernten. Es war also selbstverständlich, dass ich mich um sie kümmerte. Aber als sie älter wurde, wollte er, dass ich sie irgendwo anders unterbringe.”
“Unterbringen? Aber das ist doch gar nicht nötig, oder?”
Das hatte Daria auch immer gedacht, doch seit dem Flugzeugabsturz war sie sich über Shellys Bedürfnisse nicht mehr so sicher. Einen Moment lang war sie versucht, Rory von dem Zwischenfall zu erzählen. Es täte so gut, mit jemandem darüber zu sprechen, und sie schüttete ihm ja ohnehin gerade ihr Herz aus. Doch weder wollte sie ihn damit belasten, noch sein gutes Bild von Shelly zerstören. Sie fragte sich noch immer, wie man den Eltern der jungen Pilotin den Tod ihrer Tochter erklärt hatte. Was ihnen auch gesagt wurde: Es war gelogen.
“Ich finde auch nicht, dass sie in ein Heim muss”, sagte sie. “Aber sie braucht immer noch
mich.
Pete bekam ein Jobangebot in Raleigh und wollte mit mir zusammen dort hinziehen. Doch das hätte natürlich bedeutet, dass ich Shelly allein hätte zurücklassen müssen, und das kam beim besten Willen nicht infrage. Und selbst wenn Shelly mit uns nach Raleigh gekommen wäre, hätte Pete sich niemals damit einverstanden erklärt, sie bei uns aufzunehmen.” Als sie diese Dinge laut aussprach, wuchs Darias Wut auf Pete wieder.
“Klingt nicht gerade nach einem verständnisvollen Kerl”, fand Rory.
“Jedenfalls nicht, wenn es um Shelly ging.”
“Du hast recht. Es gibt viele Parallelen zu unserem Problem mit Polly, auch wenn Glorianne und ich uns, rückblickend betrachtet, auch aus einer Vielzahl anderer
Weitere Kostenlose Bücher