Sommerkind
schreckliche Angst zu sterben – nicht um ihretwillen, sondern wegen Shelly. Ich musste ihr versprechen, mich um sie zu kümmern, was ich ohnehin getan hätte. Sie sagte mir, ich wäre so etwas wie Shellys Mutter. Sie sagte, eigentlich wäre ich es gewesen, die ihr das Leben geschenkt habe. Und wie jedes Mal war ich bei dem Gedanken, dass Shelly ohne meinen morgendlichen Strandspaziergang nie Teil unserer Familie geworden wäre, wie vom Donner gerührt. Mom hat mir immer erlaubt, dass ich mich mit um sie kümmere. Shelly war so hübsch und so … lebhaft, von Anfang an. Ein wahrer Wonneproppen. Sie brachte die Freude zurück in unser Haus. Bevor ich Shelly gefunden habe, litt meine Mutter unter schweren Depressionen. Damals habe ich das natürlich nicht gewusst, aber ich weiß es heute: Shelly hat in ihr neue Lebensfreude geweckt.”
“Das hört sich so an, als würdest du in ihr so was wie eine … gute Fee sehen.”
Daria lächelte. “Du etwa nicht?”
“Doch. Sie ist definitiv etwas Besonderes.”
“Damals brauchte sie viel Betreuung”, fuhr Daria fort. “Ich weiß, du hältst es für übertrieben, wenn ich sage, dass sie leicht ausgenutzt werden kann. Aber es stimmt. Kurz vor Moms Tod wurde Shelly von so einem Typen entführt, der in unserer Nachbarschaft jungen Mädchen nachstellte. Sie hatte noch nicht einmal verstanden, dass sie in Gefahr war, und ist an einer roten Ampel einfach aus seinem Wagen gestiegen. Wir hatten ihr zwar verboten, mit Fremden mitzugehen, doch der Mann hatte behauptet, kein Fremder zu sein. Also ging sie mit.”
“Aber Daria, sie war damals erst acht. Mit acht haben wir doch alle dumme Sachen gemacht. Du brauchst sie jetzt nicht mehr in diesem Ausmaß zu beschützen.”
“Das ist mir schon klar”, verteidigte sie sich. “Trotzdem ist ihr Urteilsvermögen immer noch mies. Glaub es mir einfach.”
Rory wollte sich nicht streiten. Er zog an der Schnur, sah den unberührten Fischkopf und ließ ihn zurück ins Wasser.
“Hast du es nicht irgendwann einmal bereut, die Verantwortung für sie übernommen zu haben? Immerhin musstest du dafür deinen Traum opfern, Ärztin zu werden.”
“Nicht eine Sekunde.” Daria meinte es ehrlich. “Ich glaube, meine Bestimmung ist es, mich um Shelly zu kümmern, so wie es Chloes ist, ihr Leben dem Herrgott zu widmen.” Sie erinnerte sich noch, wie sie ihre Entscheidung mit Chloe diskutiert hatte. Chloe weinte. Sie wünschte sich für ihre Schwester, dass sie das College beenden konnte. Doch als Daria ihr versicherte, dass ein Leben für und mit Shelly genau das war, was sie wollte, schien Chloe ihre Entscheidung bereitwilliger zu akzeptieren.
“Ich habe dafür mehr Tischlerarbeiten erledigt. Weißt du noch, wie ich immer zusammen mit meinem Dad Möbel gebaut habe?”
“Natürlich.”
“Ich habe es schon immer geliebt, Dinge mit meinen Händen zu erschaffen. Und mit meiner Arbeit als Rettungsassistentin konnte ich mein medizinisches Interesse ausleben. Ich bereue also nichts.”
“Wieso hast du den Job als Sanitäterin an den Nagel gehängt?”
“Zehn Jahre waren einfach genug. Auch wenn ich die Arbeit gern gemacht habe.”
Bei dem letzten Satz schnürte es ihr die Kehle zu, und sie holte langsam die Falle ein – in der Hoffnung, ein Krebs würde ihr helfen, das Thema zu wechseln. Sie hatte Glück. “Sieh mal”, sagte sie. “Wir haben gleich zwei.” Sie stellte die Falle auf den Steg und warf die großen blauen Krebse in den Eimer.
Rory nahm einen weiteren Fischkopf aus der Köderbox und legte ihn in die Falle. Nicht ohne Genugtuung bemerkte Daria, dass er sich die Hände nur noch halb so gründlich an dem Tuch abwischte. Dann ließ sie das Fanggerät wieder ins Wasser.
“Du hast gesagt, Shelly kann die Outer Banks nicht verlassen”, meinte Rory. “Soll das heißen, du planst, für immer hier zu leben?”
Bislang hatte sie Gedanken an die ferne Zukunft stets verdrängt. “Ich weiß nicht”, antwortete sie, obwohl eine Veränderung ihrer Situation nicht in Sicht war. “Zurzeit ist Shelly hier glücklich, und ich fühle mich auch wohl. Warum sich den Kopf über ungelegte Eier zerbrechen?”
“Aber es ist so dünn besiedelt hier. Wie willst du denn Leute kennenlernen? Oder Männer?”
Daria lachte. “Also, es gibt schon den einen oder anderen Mann hier.” Sie war bereits mit vielen Männern von den Outer Banks ausgegangen, doch hatten Verabredungen in ihrem Leben nie eine so wichtige Rolle gespielt wie bei
Weitere Kostenlose Bücher