Sommerkussverkauf
fragte Oliver.
Im Vergleich dazu, dass mein Ehemann noch ein anderes Kind hat? Vernachlässigbar, dachte Estelle. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Es geht mir gut.«
»Die Wunde ist nicht tief. Sie muss nicht genäht werden. Wo hast du dich versteckt?«
»Im Schrank, im Gästezimmer.« Wahrscheinlich hatte sie das Taftballkleid und Olivers Mantel vollgeblutet; es war ziemlich eng gewesen. »Du hast Schlamm an den Beinen.«
»Bin in den Fluss gefallen«, sagte Oliver, »als ich versucht habe, Norris zu retten. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir«, fuhr er fort, »Hund ertrinkt, gleichgültiger Geschäftsmann ist schuld.«
»Ist er in den Fluss gesprungen und hat gestrampelt und gewinselt?« Estelle wagte eine Vermutung. »Das Schilf kitzelt ihn am Bauch. Er liebt das.« Sie verstummte und sah, wie Dampf aus dem Kessel entwich. »Wie geht es Tiff?«
Der Kessel begann zu pfeifen, und Oliver gab zwei Teebeutel in die Kanne. Vorsichtig meinte er: »Es geht ihm gut. Er erholt sich rasch.«
Estelle nickte erleichtert. »Ich dachte, du bist im Krankenhaus.«
»Nein, man braucht mich dort nicht.« Er schwieg. »Wie geht es Will?«
Wie ich dir, so du mir, dachte Estelle.
»Tut mir leid!«, platzte Oliver heraus. »Tut mir leid, du musst nicht darauf antworten. Das geht mich nichts an. Es tut mir nur leid, dass … alles tut mir leid.« Er klang müde. »Mein Gott, was für ein Chaos.«
Estelle war sprachlos; sie hatte ihn nie so niedergeschlagen erlebt. Schließlich sagte sie leise: »Ja.«
Er rieb seinen Nacken. »Ich wollte dich nie verletzen.«
»Ach nein?« Was soll’s, dachte Estelle, das Schlimmste war ja bereits passiert. Plötzlich fühlte sie sich mutig: »Bist du da ganz sicher?«
»Du hättest es niemals herausfinden sollen. Zwischen Juliet und mir läuft nichts.« Oliver schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur sehen, wie mein Sohn heranwächst.«
Estelle schluckte schwer, als die alte Sehnsucht zurückkam. Sie und Oliver hatten so sehr versucht, ein weiteres Kind zu bekommen, aber es hatte nie geklappt. Jedenfalls war das jetzt nicht länger wichtig.
»Ich rede nicht von Tiff.« Ihre Augen funkelten. »Ich rede darüber, wie du mich ständig kritisiert hast, wie du mir gesagt hast, dass meine Kleider mir nicht stehen, wie du dich über jede meiner Bemerkungen lustig gemacht hast, wie du dich beschwert hast, dass meine Bratkartoffeln nicht knusprig genug sind. Das hat mich alles sehr verletzt, Oliver. Wie eine verblödete Dienstmagd behandelt zu werden, das tut weh.«
Dieser Ausbruch traf auf verblüffte Stille. Sie sah deutlich, wie Oliver innerlich jeden Punkt auf ihrer Liste durchging.
»Das habe ich getan?«, sagte er zu guter Letzt, sichtlich erschüttert. »Habe ich mich so verhalten? Mein Gott, das ist mir nie aufgefallen. Aber vermutlich habe ich all das wirklich getan.«
»Glaube mir, das hast du.«
»Und Will war derjenige, der dich darauf aufmerksam gemacht hat«, konstatierte Oliver.
»Mag sein.« Estelle wollte Will Gifford gar nichts zugute halten. »Aber wir hatten uns schon lange in eingefahrenen Gleisen bewegt, bevor Will auftauchte. Er hat es nur ans Licht gebracht.«
»Und darum bist du in seine offenen Arme gelaufen.«
O Gott, sie war tatsächlich gelaufen, praktisch die ganze Länge von Gleis 4 am Bahnhof Paddington. Estelle krümmte sich angesichts der Erinnerung. Sie schluckte schwer und zwang sich zu einem Nicken.
»Wenigstens bewegen wir uns jetzt nicht mehr auf eingefahrenen Gleisen«, meinte Oliver erschöpft. »Ich begreife ja irgendwie, dass du ausbrechen wolltest. Vielleicht ist Will genau das, was du jetzt brauchst.«
Hatte er denn noch keine Zeitung gelesen?
Mit ausgedörrtem Mund sagte Estelle: »Ich bin nicht mehr mit Will zusammen.«
Oliver regte sich nicht. Er fragte leise:. »Nein? Wo wohnst du dann im Moment?«
»Cheltenham.« Sie konnte es ihm ruhig sagen; verdammt, er war schließlich derjenige, der die Amex-Rechnung begleichen würde. »In einem Hotel. Aber ich suche nach Wohnungen.«
»Wohnungen?«
»Nun ja, nach einer.« Obwohl Estelle ihr Bestes versuchte, schnippisch zu klingen, brach ihre Stimme. Nach fast dreißig Jahren war ihre Ehe vorüber, sie hatte sich wegen eines jüngeren Mannes zum Narren gemacht, und nun suchte sie nach einer neuen Bleibe. Hilflos wedelte sie mit den Armen und plapperte weiter: »Es ist eine Chance, mein Leben zu überdenken, neue Freunde zu finden … ich dachte, ich könnte vielleicht … äh …
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