Sommerliches Schloßgewitter
gelegentlich vom plötzlichen Zwitschern eines Vögleins aufgeschreckt, und sehnte sich nach Sue. Fünf Minuten Sue, dachte er bei sich, würden einen andern Menschen aus ihm machen.
Diese Trennung von dem geliebten Mädchen, fand Ronnie, war wirklich ein miserabler Zustand. Sue hatte sowas … Er konnte es nicht beschreiben, aber es war etwas, das auf einen dieselbe Wirkung hatte wie eine massive Dosis Muntermacher. Sie war das menschliche Gegenstück zu diesen Pülverchen, die er sich immer in der Apotheke holte – oder vielmehr: die er sich früher geholt hatte, bevor die Liebe einer Frau ihn von alledem abbrachte –, wenn die Nacht mal wieder besonders stürmisch gewesen war. Dem Dichter mußte ein Mädchen wie Sue vorgeschwebt haben, dachte er, als er die Verse schrieb: »Tatam tatamtam sturmumtost, bist du ein wahrer Herzenstrost!«
Mitten in diese Meditationen hinein sprach eine Stimme dicht hinter ihm seinen Namen.
»Du, Ronnie!«
Aber es war nur seine Cousine Millicent. Er wurde ruhiger. Einen Augenblick lang spielte er sogar mit dem Gedanken – denn so groß ist das Verlangen des Verbrechers, sich jemandem anzuvertrauen – sein schreckliches Geheimnis mit diesem Mädchen zu teilen, mit dem ihn schon seit langem eine herzliche Freundschaft verband. Dann gab er diesen Plan wieder auf. Ein solches Geheimnis konnte man nicht so einfach mit jemandem teilen. Vorübergehende Gewissenserleichterung sollte man nicht um den Preis ständiger Angst erkaufen.
»Ronnie, hast du Mr. Carmody irgendwo gesehen?«
»Hugo? Der ist mit dem Zug um zehn Uhr dreißig nach London gefahren.«
»Nach London? Wozu das denn?«
»Er will zu einer Detektei namens Argus, um einen Detektiv anzuheuern.«
»Was denn, etwa um dieser Sache mit der Kaiserin nachzugehen?«
»Ja.«
Millicent lachte. Der Gedanke war zu komisch.
»Ich würde gerne Mäuschen spielen und sehen, was dieser Argus für Augen macht, wenn er erfährt, daß er lediglich ein verschwundenes Schwein ausfindig machen soll. Wahrscheinlich haut er Hugo eins auf die Birne.«
Ihr Lachen erstarb. Ihr Gesicht wies plötzlich den Ausdruck eines Menschen auf, von dem ein unangenehmer Gedanke Besitz ergriffen hat.
»Ronnie!«
»Hm?«
»Weißt du was?«
»Was denn?«
»Da ist was faul.«
»Wie meinst du das?«
»Also, ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber diese Detektei Argus hat doch sicher Telefon. Warum hat Onkel Clarence sie dann nicht einfach angerufen und gebeten, einen Mann herzuschicken?«
»Hat wahrscheinlich nicht daran gedacht.«
»Wessen Idee war es überhaupt, jemanden einzuschalten?«
»Hugos.«
»Und er hat auch vorgeschlagen, nach London zu fahren?«
»Ja.«
»Das dachte ich mir«, sagte Millicent finster.
»Was meinst du damit?«
Millicent kniff die Augen zusammen und verpaßte einer vorbeikriechenden Raupe einen Tritt.
»Mir gefällt das nicht«, sagte sie. »Da ist was faul. Zuviel Eifer. Es sieht mir ganz so aus, als hätte unser Mr. Carmody einen besonderen Grund, die Nacht in London zu verbringen. Hast du mal von einem Mädchen namens Sue Brown gehört?«
Ronnie war an diesem Morgen schon mehrfach und heftig zusammengezuckt, aber sein jetziges Zusammenzucken stellte alles vorige an Heftigkeit weit in den Schatten.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Was darf nicht wahr sein?«
»Daß da irgendwas zwischen Hugo und Sue Brown ist.«
»So? Ich hab’s aber aus sicherer Quelle.«
Dies war kein guter Morgen für die Raupe. Sie war jetzt bei Ronnie angelangt, und auch der versetzte ihr einen Tritt. Der Raupe kam es vor, als ob es Schuhe hagelte.
»Ich muß mal telefonieren«, sagte Millicent unvermittelt.
Ronnie bemerkte ihr Weggehen kaum. Er hatte geglaubt, schon den ganzen Morgen heftig nachgedacht zu haben, aber im Vergleich zu seiner jetzigen Kopfarbeit war seine bisherige Hirntätigkeit gleich null gewesen.
Es konnte einfach nicht sein, redete er sich ein. Sue hatte ihm versichert, daß da nichts war, und sie konnte ihn nicht belogen haben. Mädchen wie Sue lügen nie. Andererseits …
Der Gong zum Essen ertönte vom andern Ende des Gartens.
Eins war jedenfalls sicher. Er konnte unmöglich hier in Blandings Castle bleiben und seine Seele von Zweifeln und Mutmaßungen vergiften lassen, gegen die er sich nicht wehren konnte. Wenn er den Zweisitzer nahm und losfuhr, sobald dieses verdammte Mittagessen vorüber war, würde er noch vor acht in London sein. Er könnte bei Sue reinschauen, sich noch einmal versichern
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