Sommerliches Schloßgewitter
dabei schwerste Verletzungen hätte zuziehen können und Mitgefühl am Platze gewesen wäre, will ich hier übergehen. Die Worte ›Total überkandidelt‹ jedoch haben mich zutiefst gekränkt.
Hätte sich dieser Vorfall nicht ereignet, so wäre es mir niemals eingefallen, etwas zu äußern, das Sie gegen Ihren Gastgeber einnehmen könnte. Unter diesen Umständen muß ich Sie aber zu meiner eigenen Rechtfertigung darauf hinweisen, daß Lord Emsworth ein Mann ist, dessen Äußerungen keine Beachtung geschenkt werden sollte. Er ist praktisch debil. Durch das Leben auf dem Lande und den Mangel an geistiger Anregung hat seine natürliche Stumpfheit ein Ausmaß erreicht, das schon an Schwachsinn grenzt. Seine Verwandten betrachten ihn mehr oder weniger als Pflegefall, wozu sie auch allen Grund haben, wie ich meine.
Ich bin sicher, daß Sie angesichts dieser Tatsachen seinen Bemerkungen von heute nachmittag keinerlei Bedeutung beimessen werden. Ihr sehr ergebener R. J. Baxter.
P.S. Ich bitte Sie, dies streng vertraulich zu behandeln. P.P.S. Wenn Sie sich etwas aus Schach machen und nach dem Abendessen eine Partie spielen möchten, ich bin ein guter Spieler. P.P.S.S. Oder Rommé.«
Sue fand das einen schönen Brief, gut formuliert und ordentlich. Warum er geschrieben worden war, verstand sie nicht. Es war ihr noch nicht aufgegangen, daß Liebe – oder zumindest der Wunsch, eine reiche Erbin zu heiraten – in R. J. Baxters Herzen zarte Knospen trieb. Ohne daß sich in ihr etwas anderes regte als der Gedanke, es werde für ihn eine Enttäuschung geben, falls er damit rechne, nach dem Abendessen mit ihr Rommé zu spielen, steckte sie den Brief ein und sah wieder hinaus auf den Park.
Die Aufgabe aller guten Literatur ist es, die Seele von ihren Alltagssorgen zu befreien. Das hatte, wie Sue erfreut feststellte, Baxters Brief tatsächlich bewirkt. Sie lächelte anerkennend bei der Erinnerung an seine wohlgesetzten Worte.
Der grollende Himmel sah jetzt nicht mehr gar so bedrohlich aus. Es würde sich schon alles wieder einrenken, dachte sie. Schließlich war es ja nicht viel, was sie vom Schicksal verlangte – nur fünf ungestörte Minuten mit Ronnie. Und wenn das Schicksal ihr auch bis jetzt die Erfüllung dieses bescheidenen Wunschs versagt hatte …
»So alleine?«
Mit wild klopfendem Herzen drehte sie sich um. Die Stimme, die sich dicht hinter ihr vernehmen ließ, hatte auf sie gewirkt wie ein nasser Schwamm im Genick. So erbaulich Baxters Brief auch gewesen war, so hatte er sie doch nicht in die Verfassung versetzt, ruhig und gelassen zu reagieren, wenn sie urplötzlich von hinten angesprochen wurde.
Es war der Ehrenwerte Galahad, der von dem Gespräch mit dem Besucher zurückgekehrt war, und sein Anblick trug nichts zur Beruhigung ihrer Nerven bei. Sie fand, daß er sie seltsam finster und durchdringend ansah. Und obwohl die Art und Weise, wie er sich neben ihr aufbaute und zu reden begann, durchaus herzlich und freundlich war, wurde sie ein Gefühl der Beklommenheit nicht los. Sie konnte diesen Blick nicht vergessen. Bei dieser drückenden Schwüle, während der Himmel düstere Prophezeiungen murmelte, mußte so ein Blick auch dem tapfersten Mädchen Angst einflößen.
Munter plauderte der Ehrenwerte Galahad von diesem und jenem, von Landschaft und Wetter, von Vögeln und Kaninchen, von Freunden, die hinter Gitter gekommen waren und anderen, die das Glück gehabt hatten, nicht erwischt zu werden. Dann hatte er sein Monokel wieder im Auge, und da war erneut dieser Blick.
Die Luft war atemloser denn je.
»Wissen Sie«, sagte der Ehrenwerte Galahad, »es ist wirklich schön, daß wir uns kennengelernt haben. Seit Jahren habe ich niemanden mehr aus Ihrer Familie gesehen, aber Ihr Vater und ich korrespondieren ziemlich regelmäßig. Er hält mich auf dem laufenden. Waren bei Ihrer Abreise alle wohlauf?«
»Ja, danke.«
»Wie ging es Tante Edna?«
»Blendend«, sagte Sue schwach.
»So«, sagte der Ehrenwerte Galahad. »Dann hat sich Ihr Vater sicherlich geirrt, als er mir schrieb, sie sei gestorben. Aber vielleicht meinten Sie Tante Edith?«
»Ja«, sagte Sue dankbar.
»Es geht ihr doch hoffentlich gut?«
»Oh ja.«
»Eine hübsche Frau.«
»Ja.«
»Sie meinen, heute auch noch?«
»Oh ja.«
»Erstaunlich! Sie muß doch schon weit über siebzig sein. Sie wollten wohl sagen, sie sei noch hübsch für ihr Alter.«
»Ja.«
»Sehr rüstig?«
»Oh ja.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Ach –
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