Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
das war einer von den Hofwachen, dünn wie die Elfenbein-Schwestern, und sanftmütig. Er hatte geweint, als sie damals die Wachmänner eingefroren hatte. Trotzdem war er geblieben und bewachte sie, wenn er an der Reihe war. Er tat, was Keenan befahl.
»Brauchen Sie zusätzliche Wachen?«, fragte der Ebereschenmann, ohne zurückzuweichen, obwohl sie wusste, dass er sich durchaus an die Wutausbrüche erinnerte, die sie bei solchen Angeboten in der Vergangenheit bekommen hatte. »Wir könnten zumindest näher heranrücken.«
Gefrorene Tränen rollten ihre Wangen hinab und landeten in der Pfütze auf der Veranda. Ich weine nicht um sie . Würde er mir auch dann noch mit einer solchen Höflichkeit begegnen, wenn er wüsste, dass ich – selbst jetzt, wo Agatha zu meinen Füßen liegt – nur um mich selbst weine?
Sie schaute weg, dahin, wo die anderen Wachmänner standen und warteten, bereit, sie zu beschützen, auch wenn sie ihnen niemals auch nur den geringsten Anlass dazu geboten hatte. Natürlich würden sie das tun. Keenan hat es so verfügt.
»Donia?«
Sie schaute hoch. »Das ist das erste Mal, dass Sie meinen Namen sagen.«
Er trat leise raschelnd auf die Veranda. »Lassen Sie uns Agatha wegbringen.«
Donia betrachtete ihn noch immer aufmerksam und nickte.
Er gab den anderen ein Zeichen, und im nächsten Moment hatten sie den Leichnam bereits weggetragen. Da, wo Agatha gelegen hatte, war nur ein riesiger feuchter Fleck zurückgeblieben.
Donia schloss die Augen, als könnte sie so die Bilder aus ihrem Kopf vertreiben, und atmete ein paarmal tief durch.
»Soll ich in der Nähe bleiben?«, flüsterte der Ebereschenmann. »Nur ein Wachmann, der näher bei Ihnen ist. Für den Fall, dass sie zurückkommt …«
»Wie werden Sie genannt?«, fragte sie ihn mit geschlossenen Augen.
»Evan.«
»Evan«, murmelte sie. »Sie wird mich töten, Evan, aber nicht heute Abend. Später. Wenn ich das neue Mädchen das Zepter aufheben lasse, wird sie mich töten. Ich werde Agatha nachfolgen.« Sie schlug die Augen auf und schaute ihn direkt an. »Fürchte ich.«
»Donia, bitte …«
»Nein.« Sie wandte sich ab. »Sie wird heute nicht mehr wiederkommen.«
»Nur ein zusätzlicher Wachtposten?« Er streckte eine Hand aus, als wollte er sie in seine Arme ziehen. »Wenn Ihnen etwas zustoßen würde …«
»Keenan würde darüber hinwegkommen. Er hat ein neues Mädchen. Sie wird ihm nachgeben. Das tun wir alle.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich zum Gehen. »Lassen Sie mich nachdenken. Morgen werde ich wissen, was zu tun ist«, fügte sie mit etwas weicherer Stimme hinzu.
Dann ging sie hinein und schloss die Tür. Sie rief Sasha zu sich, vergrub ihr Gesicht in seinem weichen Fell und versuchte sich zu beruhigen.
Keenan war bester Laune, als er nach Hause kam. Die Wachmänner hatten Niall und Tavish bereits auf den neuesten Stand gebracht, so dass ihr Lächeln ihn nicht überraschte, als er zur Tür hereinkam.
»Das ist fast Rekordzeit.« Tavish nickte anerkennend und reichte ihm ein Glas Sommerwein. »Ich hab’s ja gesagt: Es besteht kein Grund zur Sorge. Sterbliche sind nun mal so, vor allem heutzutage. Jetzt zeig ihr, wo’s langgeht, und geh zur Tagesordnung über.«
»Ihr zeigen, wo’s langgeht?« Niall lachte und schenkte sich ebenfalls ein Glas ein. »Das würde ich ja zu gerne sehen, wie du das bei einem sterblichen Mädchen versuchst.«
Tavish trug mit finsterer Miene die Karaffe ins Wohnzimmer. Auf einem langen Ast, der sich durch die ganze linke Raumhälfte erstreckte, saßen sieben Nymphensittiche. »Ich lebe schon seit Jahrhunderten mit den Sommermädchen zusammen. Sie waren alle mal Sterbliche, und sie sind nicht besonders kompliziert.«
Niall wandte sich Tavish zu und sagte so langsam, als handelte es sich bei dem älteren Elfen um ein sehr kleines Kind: »Sobald sie zu Sommermädchen werden, verlieren sie ihre Hemmungen. Erinnerst du dich an Eliza, als sie noch zu den Sterblichen gehörte? Sie hatte nichts für die Liebe übrig.« Er nahm einen großen Schluck und seufzte. »Jetzt ist sie weitaus empfänglicher dafür.«
»Ashlyn ist anders«, unterbrach Keenan ihn. Die Vorstellung, seine Ashlyn könnte wie Eliza sein, könnte bald zu den Sommermädchen gehören und die Betten anderer Elfen wärmen, ärgerte ihn maßlos. »Ich spüre es. Sie könnte die Richtige sein.«
Tavish und Niall wechselten einen Blick. Genau dieselben Worte hatten sie schon oft gehört, und er
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