Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
getroffen und ihre gemischte Herkunft ohne Zögern akzeptiert – in ihrem neuen Leben war sie durch nichts mehr zu schockieren. Mit der gleichen Unerschütterlichkeit hatte sie auch akzeptiert, dass Ani – und Tish und Rabbit – vorher gewusst hatten, dass sie durch den Austausch der Tinte verändert werden würde.
»Aber du bist stark genug für so was, Leslie, ehrlich«, hatte Ani beteuert.
»Und wenn ich es nicht bin?«
»Bist du aber. Es ist für Iri. Wir brauchen einen starken König.« Ani hatte sie umarmt. »Du bist seine Retterin. Der Hof ist inzwischen so viel stärker geworden. Er ist so viel stärker geworden.«
Leslie ignorierte die Hundselfen und ging am Fluss entlang, bis zu der Lagerhalle, an der sie sich immer mit Rianne getroffen hatte, um zu rauchen. Sie stieß das Fenster auf, durch das sie so oft zusammen hineingeklettert waren, und stieg in den zweiten Stock – gerade hoch genug, dass sie den Fluss sehen konnte. Hier draußen, weit weg von allen, fühlte sie sich so normal wie seit dem Morgen, an dem sie mit Irial ihr Elternhaus verlassen hatte, nicht mehr.
Sie betrachtete den reißenden Strom. Ihre Füße baumelten aus dem Fenster. Hier gab es weder Sterbliche noch Elfen noch Irial. Weit weg von ihnen allen fühlte sie sich weniger verbraucht. Die Welt war wieder in Ordnung, irgendwie stabiler, jetzt, wo sie allein war. Liegt das an der Distanz?
Doch es war ohnehin egal: Sie spürte, dass er näher kam. Dann stand Irial plötzlich unten auf der Straße und sah zu ihr hoch. »Kommst du da wieder runter?«
»Vielleicht.«
»Leslie …«
Sie stand auf, balancierte mit erhobenen Armen auf ihren Fußballen, als wollte sie kopfüber in einen Pool springen. »Ich sollte Angst haben, Irial. Ich hab aber keine.«
»Ich aber.« Seine Stimme klang diesmal schroff, nicht zärtlich oder beruhigend. »Ich habe furchtbare Angst.«
Sie schwankte vor und zurück in dem starken Wind.
»Es wird immer besser werden …«, begann Irial in dieser unerbittlichen Art, die er nie abzulegen schien.
»Würde es dir wehtun, wenn ich einen Schritt nach vorn mache?« Ihre Stimme war völlig leidenschaftslos, doch sie spürte ihre Aufregung bei dieser Vorstellung. Aber keine Angst . Sie spürte noch immer keine Angst, obwohl es das Einzige war, was sie wollte: Sie wollte niemandem wehtun, sie wollte sich normal fühlen. Bis jetzt war sie sich dessen nicht so sicher gewesen, aber in diesem Moment wusste sie, was sie brauchte: ihr ganzes Selbst, alle Aspekte davon, sämtliche Gefühle. Doch die sind ebenso unerreichbar wie die Normalität.
»Würdest du es spüren? Würde ich es spüren, wenn ich hinunterfiele? Würde es wehtun?« Sie sah zu ihm hinunter: Er war schön, und obwohl er sie ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt hatte, betrachtete sie ihn mit einer eigenartigen Zärtlichkeit. Er beschützte sie. Es mochte ja sein, dass er für das Chaos verantwortlich war, in dem sie steckte, aber er hatte sie nicht schutzlos dem Wahnsinn überlassen, den er heraufbeschworen hatte. Er nahm sie immer in seine Arme, ganz gleich wie oft sie ihn begehrte oder wie erschöpft er nach dem Umzug seines Hofes war. Zärtliche Gefühle stiegen in ihr auf, als sie darüber nachdachte, an ihn dachte.
Als er wieder etwas sagte, war es jedoch nichts Zärtliches. Er zeigte auf den Boden vor sich. »Dann spring!«
Wut, Angst, Zweifel überrollten sie – aber nicht auf eine angenehme Art. Für einen kurzen Moment gehörten diese Gefühle tatsächlich ihr, und diesmal waren sie wirklich . »Ich könnte es tun.«
»Ja, du könntest es tun«, wiederholte er. »Ich werde dich nicht aufhalten. Ich möchte dir nicht deinen Willen rauben, Leslie.«
»Das hast du aber schon.« Sie sah Gabriel herankommen und Irial etwas ins Ohr flüstern. »Du hast es schon getan. Ich bin nicht glücklich. Ich möchte es aber sein.«
»Dann spring.« Er wandte seine Augen nicht von ihr ab, als er zu Gabriel sagte: »Halt sie alle auf. Keine Sterblichen in dieser Straße. Und auch keine Elfen.«
Leslie setzte sich wieder hin. »Du würdest mich auffangen.«
»Ja, das würde ich. Aber wenn es dir Spaß macht, dich herabzustürzen …«, er zuckte die Achseln. »Es wäre mir lieber, du wärst glücklich.«
»Mir auch.« Sie rieb sich die Augen, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Aber es werden keine Tränen kommen. Weinen gehörte zu den Dingen, die sie nicht mehr konnte – ebenso wenig wie Sorge, Wut oder andere unangenehme
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