Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
ihr – für jedes andere menschliche Wesen in diesem Hotel unsichtbar, aber sie sah sie. Er hatte ihr die Sehergabe verliehen, mit Hilfe eines seltsamen Öls, das er ihr auf die Augenlider gerieben hatte. Schlanke Kreaturen mit winzigen Dornen überall auf der Haut glitten ihr schweigend, geradezu respektvoll hinterher. Wäre sie dazu in der Lage gewesen, hätte sie schreckliche Angst bekommen, doch sie war nichts als ein Gefäß, durch das Emotionen hindurchflossen. Wände konnten sie nicht vor ihnen abschirmen; jede Angst, jede Sehnsucht, jedes dunkle Gefühl, das die Sterblichen und Elfen in ihrer Nähe empfanden, floss durch ihren Körper, bis sie sich nicht mehr konzentrieren konnte. Nur Irials Berührung bewahrte sie vor dem Wahnsinn, beruhigte sie.
Die Aufzugtür ging zu und schloss die Elfen aus, die ihr folgten. Sie fuhr nach unten in die Hotellobby. Dort würden bereits andere auf sie warten.
Eine Glaistig nickte, als sie aus dem Aufzug trat. Sie war hübsch, hatte jedoch, wie alle Elfenwesen ihres Namens, von der Hüfte abwärts die Gestalt einer Ziege. Ihre Hufe klapperten, als sie durch die große Halle spazierte. Leslies eigene Schritte waren nicht viel leiser: Irial hatte ihr nur lächerlich teure Schuhe mit Absätzen gekauft.
»… das Auto vorfahren?« Der Portier sprach mit ihr, doch Leslie hatte es gar nicht bemerkt. »Miss? Brauchen Sie einen Fahrer?«
Sie sah ihn an, fühlte die Flut aus Angst in seinem Inneren und spürte, wie Irial diese Angst mehrere Stockwerke über ihr durch sie schmeckte. Das war ihr neues Leben: endlose verschwommene Momente, in denen nichts geschah, als dass Emotionen durch ihren Körper hindurch zu Irial flossen. Er sagte, er sei stärker geworden. Er sagte, sie machten ihre Sache gut. Er sagte, dem Hof gehe es schon besser.
Der Portier starrte sie voller Furcht und Verachtung an.
Was er wohl sieht?
Irial wirkte rein äußerlich ganz und gar nicht vertrauenerweckend. Er hatte Geld und bekam permanent Besuch von kriminell aussehenden Gästen: Die Menschenmasken der Elfen trugen nicht gerade dazu bei, die Aura der Bedrohung zu verbergen, die ihnen allen anhaftete. Und Leslie selbst bewegte sich – wenn sie die Suite verließ – wie ein Zombie an Irials Arm durch die Flure und hatte ihm bei mehreren Gelegenheiten schon Szenen in der Öffentlichkeit gemacht.
»Gehen Sie heute aus?«, fragte der Portier.
Ihr Magen zog sich zusammen. So weit weg von Irial zu sein, verursachte ihr Übelkeit.
Plötzlich tauchte Gabriel hinter ihr auf. »Brauchst du Hilfe?«
Der Portier sah weg: Das unmenschliche Timbre in Gabriels Stimme hatte er vielleicht nicht gehört, doch er spürte die Angst, die die Anwesenheit des Hundselfen bei jedem hervorrief. Das ging allen Menschen so. Es lag in Gabriels Wesen, und wenn er wütend wurde, flößte er ihnen umso mehr Furcht ein.
Die Angst des Portiers wuchs.
Du hast es bis zur Tür geschafft, Leslie. Das ist gut , hörte sie Irials Stimme in ihrem Kopf. Auch wenn sie das längst nicht mehr überraschte, zuckte sie doch zusammen.
»Nicht seinen Fahrer. Würden Sie mir ein Taxi besorgen?«, bat sie den Türsteher. Ihre Hände verkrampften sich: Sie würde nicht versagen, diesmal nicht. Sie fiel weder in Ohnmacht, noch verlor sie die Beherrschung. Kleine Siege . »Ein Taxi, das mich zur Lagerhalle bringt …« Sie brachte jedes Wort nur mühsam über ihre Lippen.
Sie schwankte.
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut genug geht, um …?«, wandte der Portier ein.
»Ja.« Ihr Mund war trocken. Die Hände hatte sie so fest zu Fäusten geballt, dass es wehtat. »Bitte, Gabriel, trag mich zum Taxi. Ich möchte zum Fluss …« Sie kippte vornüber und hoffte, dass er auf sie hören würde.
Als Leslie auf einer kleinen Rasenfläche am Fluss erwachte, war sie erleichtert. Erleichterung konnte sie empfinden, ihre positiven Gefühle trank Irial ihr nicht weg. Es hätte sie glücklich machen sollen, dass sie nicht völlig abgestumpft war. Wäre da nicht dieses unerträgliche Verlangen, von Irial berührt zu werden, diese schreckliche, krankmachende Sehnsucht, wenn dunklere Gefühle, die sie selbst nicht empfinden konnte, in sie hineinflossen, bis sie fast daran erstickte. Wenn all das nicht wäre, dann ginge es ihr vielleicht ganz gut.
Ein Stück von ihr entfernt standen mehrere von Gabriels Hundselfen und beobachteten sie. Sie jagten ihr keine Angst ein und schienen erfreut, dass Leslie sie mochte. Ein paarmal hatte sie Ani und Tish
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