Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
verraten. Das war höchst befriedigend.
Irial hielt seine Augen weiter auf das Mädchen gerichtet, als er sich noch einmal an seinen Hof wandte: »Ihre Regenten haben all dies verursacht, haben uns hierzu gezwungen, als sie Beira töteten. Denkt daran, wenn ihr ihnen eure Gastfreundschaft erweist.«
Vier
Das Tattoo-Studio war leer, als Leslie eintrat. Keine Stimme durchbrach die Stille. Selbst die Stereoanlage war aus.
»Ich bin’s«, rief sie.
Sie ging nach hinten in den Raum, in dem Rabbit es tun würde. Das Blatt mit der Schablone ihres Tattoos lag bereits auf einem Tablett auf dem Tresen, neben einem Einwegrasierer und verschiedenen anderen Gegenständen. »Bin ein bisschen zu früh.«
Rabbit sah sie einen Moment wortlos an.
»Du hast gesagt, wir könnten heute Abend anfangen. Schon mal die Außenlinie stechen.« Sie trat zu ihm und starrte auf die Schablone hinunter. Aus einer irrationalen Angst heraus, dass sie dann plötzlich verschwinden könnte, rührte sie sie jedoch nicht an.
»Lass mich erst die Tür zumachen«, sagte Rabbit schließlich.
Während er weg war, wanderte Leslie in dem winzigen Raum umher – vor allem, um die Schablone nicht doch noch anzufassen. Die Wände waren übersät mit Flyern von Shows und Tattoo-Coventions, die meisten ausgeblichen und längst veraltet. Aber es gab auch ein paar gerahmte Fotos, alle schwarz-weiß, und große Filmplakate. Wie überall im Studio war es auch hier peinlich sauber und roch leicht nach Desinfektionsmitteln.
Vor einigen Fotos blieb sie kurz stehen, erkannte aber weder die Leute darauf noch die Orte, an denen die Bilder aufgenommen worden waren. Dazwischen hingen auch gerahmte Tuschezeichnungen. Eine von ihnen zeigte Gangster aus der Capone-Ära, die den Betrachter angrinsten. Sie war so realistisch wie ein Foto und so kunstvoll gestaltet, dass sie zwischen all den Schnappschüssen und Postern eigentlich fehl am Platz wirkte. Rabbit kehrte genau in dem Moment zurück, als sie mit dem Finger den Umriss eines rasend gut aussehenden Mannes abfuhr, der inmitten dieser Gangster-Gruppe saß. Sie hatten alle ein markantes Äußeres, doch dieser eine, der an einem krummen alten Baum lehnte, kam ihr beinahe bekannt vor. Die anderen scharten sich um ihn, als wäre er so etwas wie der Anführer. »Wer ist das?«, fragte sie.
»Verwandte«, erwiderte Rabbit lapidar.
Leslie ließ ihre Augen weiter auf dem Bild ruhen. Der Mann trug einen dunklen Anzug wie die anderen, doch seine Haltung – arrogant und abschätzig – ließ ihn bedrohlicher wirken als die Umstehenden. Das war jemand, vor dem man sich in Acht nehmen musste.
Rabbit räusperte sich und zeigte auf den Platz vor sich. »Komm. Ohne dich kann ich nicht anfangen.«
Leslie riss sich von dem Bild los. Es war ohnehin merkwürdig, jemanden zu fürchten – oder anzuschmachten –, der entweder zu alt oder bereits lange tot war. Sie trat an die Stelle, die Rabbit ihr gezeigt hatte, und zog ihr T-Shirt aus.
Rabbit steckte ein Tuch unter ihren BH-Träger. »Damit er nicht schmutzig wird.«
»Ist nicht so schlimm, wenn Tinte oder irgendwas drankommt.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte still zu stehen. Auch wenn sie es gar nicht erwarten konnte, ihr Tattoo zu bekommen, war ihr doch unbehaglich zumute, als sie in ihrem BH vor ihm stand.
»Bist du dir auch sicher?«
»Absolut. Ich werde es nicht bereuen. Wirklich, das Ganze grenzt langsam an Besessenheit. Ich hab sogar schon davon geträumt. Von den Augen und diesen Flügeln.« Sie errötete und war froh, dass Rabbit hinter ihr stand und ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Er wischte ihre Haut mit etwas Kaltem ab. »Das kann ich mir vorstellen.«
»So, so.« Leslie lächelte: Rabbit war durch nichts aus der Fassung zu bringen; er tat immer so, als wären auch die seltsamsten Dinge völlig in Ordnung. Das entspannte sie ein wenig.
»Halt still.« Er rasierte die feinen Härchen an der Stelle ab, wo das Tattoo hinsollte, und desinfizierte ihre Haut anschließend erneut mit einer kalten Flüssigkeit.
Als er ein paar Schritte zurücktrat, schaute sie nach hinten. Er warf den Rasierer in den Müll, blieb kurz stehen, um sie ernst anzusehen, und kam dann wieder zu ihr. Sie beobachtete ihn über die Schulter.
Er nahm die Schablone. »Dreh dein Gesicht nach vorn.«
»Wo ist Ani?« Leslie war fast noch nie im Studio gewesen, ohne dass Ani zwischendurch aufkreuzte, für gewöhnlich mit Tish im Schlepptau. Sie schien eine Art geheimen
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