Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
da noch jemand?«
»Du bist müde. Du hast neben der Schule noch Extraschichten gemacht diesen Monat, hab ich Recht? Vielleicht bist du kurz weggedriftet.« Er legte den Kopf schief, wie ein Hund, der ein neues Geräusch hört, so wie es auch seine Schwestern immer taten.
»Willst du behaupten, ich wäre im Sitzen eingeschlafen, während du mich tätowierst?« Sie zog die Augenbrauen zusammen und warf einen Blick nach hinten.
»Vielleicht.« Er zuckte die Achseln und wandte sich ab, um eine braune Glasflasche aufzuschrauben. Sie war anders als die anderen Farbfläschchen: Das Etikett war von Hand beschriftet, in einer Sprache, die sie nicht kannte.
Als er sie öffnete, sah es so aus, als entwichen winzige Schatten daraus. Seltsam . Sie blinzelte und starrte dann erneut hin. »Ich muss wirklich müde sein«, murmelte sie.
Er goss die Tinte aus dieser Flasche in eine der Farbkappen, wobei er die Flasche so hielt, dass sie die Kante des Behälters nicht berührte. Dann verschloss er sie wieder und wechselte die Handschuhe.
Sie drehte sich wieder nach vorn und schloss erneut die Augen. »Ich hab eigentlich gedacht, es würde wehtun.«
»Es tut auch weh.« Damit senkte er die Tätowiermaschine wieder auf ihre Haut, und sie konnte nicht mehr sprechen.
Das Summen hatte immer beruhigend geklungen, wenn Leslie Rabbit arbeiten gehört hatte; doch das Vibrieren auf ihrer Haut war aufregend und überhaupt nicht beruhigend – ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hätte diese Empfindung zwar nicht als Schmerz beschrieben, aber so harmlos, dass sie dabei schlafen könnte, war das Ganze nun auch wieder nicht.
»Alles in Ordnung?« Rabbit wischte erneut mit einem Tuch über ihre Haut.
»Mir geht’s gut.« Sie fühlte sich schwach, so als wären ihre Knochen plötzlich aus Gummi. »Weiter.«
»Heute nicht mehr.«
»Wir könnten es doch heute Abend fertig machen …«
»Nein. Für dieses Tattoo brauche ich mehrere Sitzungen.« Rabbit wischte schweigend über ihre Haut, dann ließ er seinen Stuhl zurückgleiten. Die Räder des Stuhls klangen plötzlich furchtbar laut, als sie über den Boden rollten, so als würde ein Felsblock über ein Metallgitter gezogen.
Seltsam .
Sie richtete sich auf – und wäre beinahe ohnmächtig geworden.
Rabbit stützte sie. »Mach langsam.«
»Das ist der Kreislauf oder so.« Um eine klare Sicht bemüht blinzelte sie um sich und versuchte, nicht die Schatten anzusehen, die völlig losgelöst durch den Raum zu wandern schienen.
Aber Rabbit war bei ihr und zeigte ihr das Tattoo – mein Tattoo – mit Hilfe zweier Handspiegel. Sie versuchte zu sprechen, und vielleicht tat sie es auch, sie war sich nicht sicher. Sie hatte das Gefühl, die Zeit wäre aus dem Takt, würde mal schneller, mal langsamer vergehen und mit einer weit entfernten Chaos-Uhr Schritt halten, sich einem unberechenbaren Rhythmus beugen. Rabbit drückte einen sterilen Verband auf das Tattoo. Aber scheinbar im selben Moment legte er auch seinen Arm um sie und half ihr beim Aufstehen.
Sie machte ein paar unsichere Schritte. »Sei vorsichtig mit meinen Flügeln.«
Sie stutzte. Flügel?
Rabbit schwieg; vielleicht hatte er sie nicht gehört oder nicht verstanden. Vielleicht hatte sie auch gar nichts gesagt – aber sie sah es genau vor sich: dunkle, schattenhafte Schwingen, irgendetwas zwischen Federn und weichem altem Leder, die die empfindliche Haut ihrer Kniekehlen kitzelten.
So weich, wie ich sie in Erinnerung habe.
»Rabbit? Ich fühle mich ganz komisch. Irgendetwas stimmt nicht.«
»Das ist der Endorphinrausch, Leslie. Davon wird man ganz high. Aber das geht vorbei, das ist nichts Ungewöhnliches.« Doch er sah sie nicht an, als er das sagte, und sie wusste, dass er log.
Sie wusste, dass sie jetzt eigentlich Angst bekommen müsste, doch sie empfand keine. Rabbit hatte sie angelogen: Irgendetwas stimmte nicht. Sie war auf eine seltsame Art sicher – so wie wenn man Zucker probiert und jemand behauptet, es sei Salz –, dass seine Worte falsch schmeckten.
Doch es war egal. Die fehlenden Zeiger der Chaos-Uhr rückten wieder ein Stück vor, und in diesem Moment zählte nichts anderes als die Tinte in ihrer Haut, das Summen in ihren Adern, dieses euphorische Sirren, das ihr ein Selbstvertrauen verlieh, das sie schon viel zu lange nicht mehr empfunden hatte.
Fünf
Obwohl Rabbit ihm gesagt hatte, wo er sie finden konnte, hatte Irial sich der Sterblichen bislang nicht genähert. Eigentlich
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