Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
»Wo sind Carla und Ash?«
Rianne zuckte die Achseln. »Tun, was man von ihnen erwartet?«
Leslie nahm an, dass sie das besser auch täte, doch als Rianne ihr am Morgen über den Weg gelaufen war, hatte sie ihr »Abstellkammer« zugeraunt. Rianne war zwar launisch und unzuverlässig, aber immerhin eine gute Freundin, also hatte Leslie ihre erste Stunde geschwänzt. »Was ist denn los?«
»Mom hat meinen Vorrat entdeckt.« Riannes stark geschminkte Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hab nicht damit gerechnet, dass sie nach Hause kommt, und …«
»Wie hat sie reagiert?«
»Stinksauer. Ich muss jetzt wieder zu dieser Beratung gehen. Und …« Rianne senkte den Blick. »Es tut mir so leid.«
»Was tut dir leid?«, fragte Leslie alarmiert. Plötzlich hatte sie das Gefühl, irgendetwas würde ihr die Luft abdrücken.
»Sie glaubt, ich hab das Zeug von Ren. Dass er es mir gegeben hat, damit ich … Du rufst wohl besser eine Weile nicht an oder kommst vorbei. Es ist nur … Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte. Ich hatte einen totalen Aussetzer.« Rianne nahm Leslies Hand. »Ich werde es ihr sagen. Es ist nur so … sie ist echt …«
»Ach, vergiss es einfach.« Leslie wusste, dass sie barsch klang, aber eigentlich war sie nicht wirklich überrascht. Rianne war einfach nicht für solche Stresssituationen geschaffen. »Es war aber nicht von ihm, oder? Du weißt, dass du dich von Ren fernhalten sollst.«
»Ja, schon.« Rianne lief rot an.
Leslie schüttelte den Kopf. »Er ist so ein Arschloch.«
»Leslie!«
»Ich mein’s ernst. Ich bin nicht sauer, wenn du sie in dem Glauben lässt. Halt dich bloß von Ren und seinen Leuten fern.« Leslie wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass ihre Freundin unter Rens Einfluss geraten könnte.
»Und du bist echt nicht sauer auf mich?«, fragte Rianne mit bebender Stimme.
»Nein.« Leslie staunte selbst darüber, aber es stimmte. Ihr Verstand sagte ihr, dass es durchaus angebracht gewesen wäre, sich aufzuregen, aber sie fühlte sich geradezu friedvoll. Sie spürte zwar einen Anflug von Wut, doch konnte sich dieses Gefühl irgendwie nicht durchsetzen. So war es seit Tagen: Jede Emotion ebbte wieder ab, bevor sie eine größere Intensität entwickeln konnte.
Leslie hatte die irrationale Vorstellung, dass ihr Gefühlshaushalt sich wieder normalisieren würde, sobald das Tattoo fertig war. Aber vielleicht verzehrte sie sich auch nur nach dieser markerschütternden Empfindung, die die Nadeln der Tätowiermaschine bei ihr ausgelöst hatten. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken, und konzentrierte sich auf Rianne. »Es ist nicht deine Schuld, Ri.«
»Doch, ist es wohl.«
»Okay, es ist deine Schuld, aber ich bin nicht sauer.« Leslie umarmte Rianne flüchtig und wich dann zurück, um sie böse anzusehen. »Aber ich werde sauer, wenn ich dich in Rens Nähe sehe. Er umgibt sich in letzter Zeit mit richtig üblen Typen.«
»Aber wie schützt du dich vor ihm?«
Leslie ignorierte die Frage und stand auf. Sie brauchte plötzlich Luft, musste raus aus diesem Raum. Sie schenkte Rianne ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es überzeugend aussah, und sagte: »Ich muss jetzt gehen.«
»In Ordnung. Wir sehen uns dann in der vierten Stunde.« Rianne rückte die Matten wieder so zurecht, dass sie zumindest andeutungsweise einen ordentlichen Stapel bildeten.
»Nein, ich geh nicht zum Unterricht.«
Rianne hielt inne. »Du bist doch sauer.«
»Nein. Wirklich nicht, ich bin nur …« Leslie schüttelte den Kopf. Sie war nicht sicher, ob sie diese seltsamen Gefühle erklären konnte oder wollte, die sie umtrieben. »Ich will einfach ein Stück gehen. Laufen. Ich … Ich weiß auch nicht.«
»Soll ich dir Gesellschaft leisten? Ich könnte auch schwänzen.« Rianne lächelte sie etwas zu strahlend an. »Ich könnte noch schnell Ash und Carla Bescheid sagen und wir treffen uns dann am …«
»Nein, heute nicht.« Leslie wollte nur noch loslaufen, raus, einfach abhauen.
Riannes Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Leslie seufzte. »Das hat nichts mit dir zu tun, Süße. Ich brauche einfach ein bisschen Luft. Ich glaube, ich arbeite zu viel oder so.«
»Möchtest du reden? Ich kann gut zuhören.« Rianne fuhr mit der Hand über die verlaufene Wimperntusche unter ihren Augen und machte es dadurch nur noch schlimmer.
»Halt mal still.« Leslie wischte mit der Kante ihres Ärmels die schwarzen Streifen weg. »Ich muss es mir einfach von der Seele laufen. Den
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