Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
Elfenbein-Schwestern schwebte unsichtbar durch den Raum und spähte den Sterblichen in die offenen Münder, wenn sie redeten. Ein anderer Elf, dessen Körper aus nichts als waberndem Rauch bestand, wehte vorbei. Er pflückte unsichtbare Spuren aus der Luft und steckte sie in den Mund, kostete den Odem der Sterblichen und ernährte sich von dem Hauch von Kaffee oder Süßigkeiten, den sie ausatmeten. Doch niemand testete die Grenzen des anderen aus. Dies hier war ein Ort, an dem die Elfen sich – unabhängig von etwaigen Privatstreitigkeiten oder davon, welchem Hof sie angehörten – gut benahmen. Das Museum war ein neutraler Ort, ein sicherer Ort.
Und Niall nutzte den Vorteil dieser Sicherheit aus, um gegen die Regeln seines Hofs zu verstoßen. Er hatte sich Leslie gezeigt und allein mit ihr geredet, ohne selbst zu wissen, warum er das tat. Er empfand einen unwiderstehlichen Drang, ihr nah zu sein, der diesmal sogar noch ausgeprägter war als zuvor im Verlaine. Er verweigerte seiner Königin den Gehorsam – nicht indem er einen direkten Befehl missachtete, aber indem er ihrem Willen zuwiderhandelte. Wenn Keenan bei Ashlyn kein gutes Wort für ihn einlegte, würde er harte Konsequenzen zu spüren bekommen.
Ich kann erklären, dass … dass … dass was? Nichts von dem, was er sagen könnte, würde der Wahrheit entsprechen. Er hatte schlicht und einfach Leslie gesehen, sie dabei beobachtet, wie sie ziellos umherwanderte, und sich ihr gezeigt – hatte einfach seinen Zauber abgestreift, mitten in der Gemäldegalerie, wo jeder Sterbliche es hätte sehen können und wo zahlreiche Elfen es auch gesehen hatten .
Warum gerade jetzt?
Der Sog, zu ihr hinzugehen, sich ihr zu zeigen, war wie ein Befehl, dem er sich einfach nicht widersetzen konnte – und dem er sich, wenn er ehrlich war, auch gar nicht widersetzen wollte . Bis zum heutigen Tag war es ihm immer gelungen, sich von ihr fernzuhalten, aber das konnte sein heutiges Benehmen, für das es eine peinliche Vielzahl von Zeugen gab, auch nicht wiedergutmachen. Er sollte sich entschuldigen, umkehren, bevor er es so weit trieb, dass seine Königin wütend wurde. Stattdessen fragte er: »Hast du dir schon die Sonderausstellung angesehen?«
»Nein, noch nicht.« Sie hielt Abstand, nachdem er so lange geschwiegen hatte.
»Dort hängt ein Gemälde der Präraffaeliten, das ich dir gern zeigen würde. Hast du Lust mitzukommen?« Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich sämtliche Gemälde der Präraffaeliten anzusehen, deren er habhaft werden konnte. Sorcha, die Herrscherin über den Hof des Lichts, war diesen Künstlern zu deren Lebzeiten sehr zugetan gewesen und ihr Antlitz war in einer ganzen Reihe ihrer Bilder verewigt: Burne-Jones war ihr in den Goldenen Stufen sogar beinahe gerecht geworden. Er dachte darüber nach, es Leslie zu erzählen – und bremste sich. Er war sichtbar für sie. Eigentlich sollte er gar nicht mit ihr reden, über gar nichts.
Er wich einen Schritt vor ihr zurück. »Aber wahrscheinlich interessiert dich das gar nicht. Ich kann auch …«
»Doch, tut es. Ich kenne die Präraffaeliten nicht. Ich bin einfach herumgelaufen und hab mir Bilder angesehen. Ich verstehe nicht viel von Kunstgeschichte, ich weiß nur …«, sie errötete leicht, »… was mich bewegt.«
»Mehr braucht man eigentlich auch nicht zu wissen, oder? Ich erinnere mich zum Teil deswegen an ihren Namen, weil ich weiß, dass die Kunst der Präraffaeliten mich bewegt.« Er erlaubte es sich, sie zu berühren, und legte ihr sanft seine Hand ins Kreuz. »Wollen wir?«
»Sicher.« Sie ging voraus, weg von ihm, weg von seiner Hand. »Aber wer sind denn jetzt diese Präraffaeliten?«
Die Frage konnte er beantworten. »Das waren Künstler, die zu ihrer Zeit beschlossen haben, mit den Regeln der Kunstakademie zu brechen, um nach ihren eigenen Maßstäben neue Kunstwerke zu schaffen.«
»Aha, Rebellen also«, gab sie lachend zurück. Plötzlich fühlte sie sich – ohne dass es einen Grund dafür gab – wieder ganz entspannt und frei. Und die schönen Gemälde und reich verzierten Säulen kamen ihr im Vergleich mit ihr selbst sofort weniger beeindruckend vor.
»Rebellen, die die Welt veränderten, weil sie daran glaubten, es zu können.« Er führte Leslie an einer Gruppe von Sommermädchen vorbei, die für sie unsichtbar waren. Sie tuschelten und zeigten schmollend mit dem Finger auf ihn. »Der Glaube ist etwas Mächtiges. Wenn man fest an eine Sache glaubt …«
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