Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
sehr schlankes Mädchen, deren Haut mit Weinranken bemalt war, und starrte sie an. »Nicht, dass ich mich beschweren wollte, aber solltest du nicht mit Ashlyn zusammen im Unterricht sitzen?«
Leslie sah zu dem Ranken-Mädchen hinüber, das sie weiterhin ganz offen anstarrte, und fragte sich, ob sie ein lebendes Kunstobjekt darstellte. Aber dann erkannte sie, dass es einfach an der schlechten Beleuchtung oder am Schatten gelegen haben musste: Das Mädchen trug doch keine Körperbemalung. Leslie schüttelte den Kopf und wandte sich Niall zu: »Ich brauchte ein bisschen frische Luft. Und Kunst. Und Raum.«
»Enge ich dich ein?«, fragte Niall und machte einen großen Schritt zurück. »Ich wollte bloß mal hallo sagen, weil wir sonst nie zum Reden kommen … Aber müssen wir ja auch nicht. Du kannst auch gehen. Oder ich gehe, wenn du noch was zu …«
»Begleitest du mich ein Stück?« Obwohl er sie so begeistert ansah, schaute sie nicht weg. Anstatt nervös zu werden, fühlte sie sich erstaunlich mutig.
Er bedeutete ihr mit einer Geste voranzugehen, was ihr übertrieben ritterlich vorkam. Niall war nicht direkt steif, doch er wirkte irgendwie angespannt und ließ seinen Blick ständig durch die Galerie schweifen.
Dann sah Niall wieder sie an. Er sagte nichts, doch die Art, wie er Abstand zu ihr hielt, hatte etwas seltsam Verkrampftes. Er hob seine rechte Hand und senkte sie wieder, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte. Die Finger seiner linken Hand waren zur Faust geballt und er hielt den Arm unbeweglich seitlich am Körper.
»Ich bin froh, dass du zur Abwechslung mal nicht bei Keenan bist, sondern hier«, sagte sie und legte ihm eine Hand auf den Arm.
Niall sagte nichts, antwortete nicht. Stattdessen sah er weg.
Er hat Angst.
Aus unerfindlichen Gründen musste sie an den seltsamen Gast im Verlaine denken; fast hörte sie ihn seufzen, während sie Nialls Furcht einatmete.
Furcht einatmete?
Sie schüttelte den Kopf und versuchte an etwas anderes zu denken, an etwas, das sie zu Niall sagen könnte – und das sie von der Tatsache ablenkte, dass seine Angst ziemlich aufregend war. Sie blieb einfach neben ihm stehen, während die Stille zwischen ihnen sich immer weiter ausdehnte und schließlich peinlich offensichtlich wurde. Sie hatte das Gefühl, die anderen Museumsbesucher würden sie schon anstarren, aber immer, wenn sie zu ihnen hinschaute, war es, als schöbe sich ein Filter vor ihre Augen und verzerrte ihre Sicht. Sie betrachtete das Gemälde, nahm jedoch nur noch verschwommene Farben und Formen wahr. »Fragst du dich auch manchmal, ob andere genau dasselbe sehen wie du?«
Er wurde sogar noch stiller neben ihr. »Manchmal bin ich mir sicher, dass sie nicht dasselbe sehen … aber das ist ja auch nicht schlimm, oder – wenn man die Welt ein bisschen unterschiedlich wahrnimmt?«
»Vielleicht.« Sie schaute ihn an, seine nervöse Haltung, und hätte gern die Hand nach ihm ausgestreckt – um ihm Angst zu machen oder um ihn zu beruhigen, sie war nicht sicher, welches von beidem.
»Eine kreative Art, die Dinge zu sehen, bringt Kunstwerke hervor« – er wies mit dem Arm durch die Galerie –, »sie zeigt dem Rest der Welt neue Perspektiven auf. Und das ist etwas sehr Schönes.«
»Oder etwas sehr Verrücktes«, sagte sie. Zu gern hätte Leslie jemandem anvertraut, dass sie nicht mehr richtig sehen konnte und seltsame Dinge fühlte. Sie hätte sich gern vergewissert, dass sie nicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Aber ausgerechnet einen Fremden zu bitten, sie zu beruhigen, brachte sie nicht über sich – selbst jetzt, wo ihre Gefühle so verrücktspielten.
Also verschränkte sie die Arme vor der Brust, ging weiter und ignorierte entschlossen jeden, der sie oder Niall ansah. Niall folgte ihr mit schmerzerfüllter Miene. In den letzten Tagen benahmen sich wirklich alle seltsam – aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie die Welt überhaupt gerade erst wieder wahrzunehmen begann. Vielleicht erwachte sie endlich aus der Depression, gegen die sie so lange angekämpft hatte. Sie wollte es gern glauben, aber sie vermutete, dass sie sich damit etwas vormachte: Die Welt um sie herum war aus dem Lot geraten, und sie war nicht sicher, ob sie wissen wollte warum.
Neun
Der Argwohn, mit dem Niall die Elfen ansah, die sie beobachteten, war in einem Museum eigentlich unangebracht. Mit Weinreben umrankte Sommermädchen trugen Zauber, um wie Menschen auszusehen. Eine der filigranen
Weitere Kostenlose Bücher