Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
Sorgen zerstreuten.
Dreißig
Leslie drehte sich auf die andere Seite, aus Irials Reichweite. Aber obwohl das Bett riesig war, fühlte sie sich ihm immer noch zu nah. Sie hatte schon mehrmals aufstehen und gehen wollen. Sie hatte es nicht getan. Nicht gekonnt.
»Es wird einfacher werden«, sagte er zärtlich. »Im Moment ist alles noch ganz neu. Es wird dir bald bessergehen. Ich werde …«
»Ich kann nicht weggehen. Ich bringe es nicht fertig. Ich nehme mir die ganze Zeit vor zu gehen, aber dann tue ich’s nicht.« Selbst jetzt, wo ihr ganzer Körper schmerzte, spürte sie keine Wut. Dabei sollte sie das. Das wusste sie. »Ich fühle mich, als müsste ich mich übergeben, wenn ich mich zu weit von dir entferne …«
Er drehte sie zu sich um, damit er sie wieder in den Armen halten konnte. »Das. Wird. Vorbeigehen.«
»Das glaube ich dir nicht«, flüsterte sie.
»Wir waren ausgehungert. Es ist …«
»Ausgehungert? Wir?«, fragte sie.
Er erzählte ihr, was er war, was Niall war, was Ashlyn und Keenan waren. Er erzählte ihr, dass sie keine Menschen waren, keiner von ihnen.
Seth hat die Wahrheit gesagt. Irgendwie hatte sie das zwar schon geahnt, aber es war schrecklich, es noch einmal bestätigt zu bekommen. Ich bin wütend. Ich habe Angst. Ich bin … Sie war es aber nicht, nichts von alldem.
Irial redete immer weiter. Er erzählte ihr, dass es verschiedene Höfe gab und dass seiner – der Hof der Finsternis – von Gefühlen lebte. Er erzählte ihr, dass er seine Elfen durch sie ernähren werde, dass sie ihre Rettung sei, seine Rettung. Er erzählte ihr lauter Dinge, die sie in Angst und Schrecken versetzen müssten, und jedes Mal, wenn sie beinahe ängstlich oder wütend wurde, trank er diese Gefühle weg.
»Und was bist du an diesem Elfenhof?«
»Ich stehe an der Spitze, trage die Verantwortung für alle. Genauso wie Ashlyn und Keenan am Sommerhof.« Er sagte das ganz ohne Arroganz; er klang sogar müde.
»Aber ich bin …« Sie kam sich albern vor, aber sie wollte es wissen, musste es fragen, »… ich bin noch ein Mensch?«
Er nickte.
»Und was bedeutet das? Was bin ich dann?«
»Du bist mein Schattenmädchen. Du gehörst mir.« Er küsste sie, um dies zu unterstreichen. »Mir allein.«
»Was bedeutet?«
Er sah sie überrascht an. »Dass du alles haben kannst, was du dir wünschst.«
»Was, wenn ich gehen will? Um Niall zu treffen?«
»Ich bezweifle, dass er uns besuchen kommt, aber du kannst zu ihm gehen, wenn du möchtest.« Irial rollte sich wieder auf sie, während er dies sagte. »Sobald du dazu in der Lage bist, kannst du hier aus und ein gehen, wie es dir beliebt. Wir werden auf dich aufpassen, dich beschützen, aber du kannst immer gehen, wenn du willst und kannst.«
Aber sie tat es nicht. Sie wollte nicht und konnte nicht. Er log nicht: Sie glaubte es, schmeckte es, spürte es. Doch sie wusste, was auch immer er mit ihr gemacht hatte, nahm ihr die Kraft, irgendwo anders sein zu wollen als bei ihm. Einen Moment lang überkam sie Panik bei diesem Gedanken, aber nur kurz. Dann wurde sie von heftigem Verlangen abgelöst, und ihre Fingernägel senkten sich in Irials Haut. Sie zog ihn enger an sich – wieder und immer wieder –, und trotzdem zitterte sie fast vor Verlangen.
Als Gabriel hereinkam, war Leslie wieder angezogen. Sie wusste zwar nicht genau, wie es dazu gekommen war, aber das war auch gleichgültig. Sie saß aufrecht und zugedeckt im Bett und hielt einen Apfel in der Hand.
»Du musst jetzt was essen.« Irial strich ihr die Haare aus dem Gesicht, seine Finger so zärtlich wie sein Tonfall.
Sie nickte. Sie wollte etwas sagen, doch es war schon wieder verschwunden, bevor sie sich an die Worte erinnern konnte.
»Gibt es Probleme?«, fragte Irial Gabriel. Irgendwie war Irial plötzlich an einem Schreibtisch ganz weit weg von ihr.
Sie suchte nach dem Apfel, den sie eben noch in der Hand gehalten hatte, aber er war verschwunden. Sie schaute an sich herab: Auch ihre Kleider waren plötzlich andere, jetzt trug sie einen mit roten Blumen und blauen Schlangenlinien bedruckten Morgenrock. Sie versuchte, die Linien mit dem Finger abzufahren, dem Muster zu folgen.
»Das Auto ist da.« Gabriel nahm ihre Hand und half ihr aufzustehen.
Ihr Rock legte sich um ihre Fußgelenke.
Sie stolperte in Irials Armen vorwärts, als sie den Club betraten. Die hellen Lichter zwangen sie, ihr Gesicht an seinem Hemd zu verbergen.
»Du schlägst dich großartig«, sagte er zu ihr,
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