Sommerlicht Bd. 4 Zwischen Schatten und Licht
darstellten?«
Sie erhob erneut die Hand, doch er ließ sie nicht noch einmal zuschlagen. »Nein. Nur du warst die Bedrohung.« Er packte ihr Handgelenk und lockerte zugleich seine lächerliche Selbstbeherrschung so weit, dass sie zum ersten Mal seine Emotionen spüren konnte.
Traurig. Ängstlich. Fürsorglich. Sehnsüchtig.
Sie stockte. Er fühlte sich nicht an wie jemand, der ihr wehtun wollte – vielmehr als wollte er sie beschützen.
Wie geht das? Wie passt das zusammen?
Sie starrte ihn durchdringend an, ließ seine Emotionen durch sich hindurchströmen, trank sie, um ihren Hunger zu stillen. »Du hast mich damals nicht umgebracht … Also wirst du es auch jetzt nicht tun … Würdest du mich töten, wenn sie es dir befehlen würden?«
»Bananach kann mir keine Befehle erteilen.«
Ani musste fast lächeln – er verdrehte ihre Worte, um ihr auszuweichen. »Netter Versuch. Probier’s noch mal. Würdest du mich töten, wenn Sorcha es dir befehlen würde?«
Er regte sich nicht. »Wenn sie mir befehlen würde, dein Leben zu beenden, und ich mich weigerte, würde ich aus meinem Hof geworfen. Mein Treueschwur«, er blickte Ani an, »wäre nichts mehr wert. Ich würde meineidig.«
»Du bist es schon. Du verheimlichst ihr was, du versteckst mich.« Plötzlich verstand sie. »Du wusstest mein Leben lang, wo ich war.«
Er nickte.
Ani steckte ihre Hände hinten in die Hosentaschen und wiegte sich auf den Fersen vor und zurück. »Warum hast du Sorcha nicht gesagt, wo ich war? Warum hast du mich verschont? Warum hast du Jillian nicht auch gerettet?«
Er sah sie einige Sekunden nur an, atmete gleichmäßig und schwieg, doch seine Gefühle rasten zwischen Aufregung, Angst und Hoffnung hin und her. Jetzt, wo er aus dem Gleichgewicht gekommen war, konnte sie sich an einer Kostprobe seiner Gefühle satt essen bis zur Völlerei.
Als würde mich ein König füttern.
Devlin legte seine Hand an ihre Wange. »Probiere ruhig davon. Es wird dir nicht helfen zu verstehen.«
Ihr klappte die Kinnlade herunter. Niemand außerhalb des Hofs durfte wissen, wovon Dunkelelfen sich ernährten! Wer dieses Geheimnis verriet, wurde mit dem Hungertod bestraft.
Er bewegte die Hand von ihrer Wange zu ihrem Schlüsselbein und ließ sie dann an ihrer Kehle, direkt über ihrem Herzen, liegen. Ani wusste nicht, ob es Bedrohung oder Liebkosung sein sollte. Er stand völlig reglos da, hielt seine Hand auf ihre Haut gedrückt und atmete langsam ein und aus. »Frag mich noch mal«, sagte er leise. »Stell mir deine Frage.«
Sie stockte. Er verschloss seine Gefühle nicht vor ihr. Wo ist die Falle?
»Würdest du mich töten?«, fragte sie.
»Nicht die.« Er strich mit dem Daumen über ihren nackten Hals. »Die andere Frage.«
Ihr ganzes Leben lang wartete sie schon darauf, diesem Elf in dieser Sekunde diese Frage stellen zu können. »Warum hast du Jillian getötet?«
Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Das habe ich nicht. Sie ist im Elfenreich versteckt.«
Ani spürte, wie sie schwankte, doch Devlin fing sie auf, bevor sie stürzen konnte, und legte sie auf dem Boden ab. Eine lebenslange Gewissheit, alles, was sie über ihre Vergangenheit wusste, hatte sich mit einem Schlag verändert. Ihre Mutter lebte! Das war fast zu schön, um es glauben zu können. Tränen verschleierten ihren Blick. Das Monster, vor dem sie sich geängstigt hatte, hatte ebenso sie wie Jillian gerettet und sein eigenes Leben dafür riskiert. Nach all den Jahren der Angst vor dem Elf, der ihr Leben verändert hatte, blickte Ani nun zu ihm auf und wusste, dass er in Wahrheit der Grund war, warum sie noch lebte. Warum Jillian lebt . Sie konnte all das nicht so schnell begreifen. Alles, was sie herausbrachte, war: »Meine Mutter.«
Er kniete sich neben sie. »Sie wollte nicht, dass du es weißt, aber … ich kann nicht zulassen, dass du mich hasst. Ich kann dich nicht beschützen, wenn du mich hasst.«
»Wo … ist sie? Wo? Ist das unser Ziel?«
»Nein. Sie ist in Sicherheit, aber wir können dort nicht hin«, antwortete er.
»Ich dachte …« Ani versuchte Worte zu finden für all die Jahre der Angst und des Schmerzes, aber es gab keine. »Ich dachte, sie wäre tot. Ich dachte, du hättest …«
»Es war das Beste so.«
»Aber hilf mir zu verstehen, warum. Weil ich es nicht wusste, habe ich mein Leben lang gedacht, sie wäre tot, und immer Angst gehabt, irgendjemand – offenbar du – könnte zurückkommen und Tish etwas antun.« Ani
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