Sommerlicht Bd. 5 Aus dunkler Gnade
dieser zwar sauberere, aber allzu öffentliche Käfig nun besser oder schlechter war als die beengte Zelle vorher. Doch beide waren jener Zelle mit den Metallspitzen an Stelle eines Bodens eindeutig vorzuziehen.
Als Niall seinen Blick schließlich von Seth abwandte, schien er erstaunt über die Anwesenheit seiner Elfen. Er runzelte die Stirn und befahl: »Geht weg! Alle!«
Niall sah ihnen dabei zu, wie sie allzu bereitwillig aus dem Raum flohen. Seine Wut und seine Trauer befähigten ihn zu einer Grausamkeit, die sie nicht erwartet hatten. Aber was er nun zu tun hoffte, ging über Trauern noch einen Schritt hinaus. Er war bereit, um Dinge zu feilschen, um die man nicht feilschen sollte, doch er hatte das Gefühl, dass sein Verstand nicht richtig funktionierte. Schon vor Irials Tod hatte Niall an seiner Zurechnungsfähigkeit gezweifelt. Er hatte von Menschen gehört, die »übergeschnappt« waren, und eine bessere Erklärung für seinen Zustand hatte er bislang nicht gefunden. An einem bestimmten Punkt hatte er sich plötzlich gefühlt, als wäre ihm der Teil seiner Persönlichkeit, der nicht bereits von Trauer, Sorge und Wut zernagt war, abhandengekommen. Irgendetwas in seinem Innern war entzweigerissen.
Hätte ich einen Weg gefunden, Irial zu retten, wenn ich bei klarem Verstand gewesen wäre?
Der König der Finsternis schüttelte den Kopf. Er war nicht bei klarem Verstand. Er hatte riesige Gedächtnislücken und keine Ahnung, was in dieser Zeit geschehen war. Gestern war er zu sich gekommen und hatte entdeckt, dass Seth sein Gefangener war, aber er war sich nicht sicher, wie lange und über was sie sich unterhalten hatten.
»Was hast du vor?«, fragte Seth.
»Du kannst die Zukunft sehen. Also weißt du doch, was ich tun werde.« Niall schaute zur Tür der Lagerhalle. »Wird es funktionieren?«
»Niall …«
» Sag’s mir. Er wird jede Minute hier sein. Wie bringe ich ihn dazu, mir zu geben, was ich will?« Nialls Abgrundwächter nahmen schlagartig ihre halb materielle, halb immaterielle Gestalt an und tätschelten tröstend seine Arme.
Seth schüttelte stumm den Kopf.
Dann kam der Dunkle Mann in die Lagerhalle spaziert.
Der Tod hatte das Zentrum des Hofs der Finsternis betreten, und Niall verneigte sich tief vor ihm wie ein Bittsteller vor einer Gottheit. »Ich bitte dich um eine Gefälligkeit.«
»Nein.«
»Du hast doch noch gar nicht gehört, was ich will.« Nialls Stimme war nicht viel mehr als ein Knurren, doch er klang nicht angriffslustig.
Noch nicht.
Far Dorcha seufzte. »Du begehrst, was sie alle begehren, wenn ihre Trauer in Wahnsinn umschlägt.«
Niall erwiderte unbeirrt: »Ich möchte mein Leben oder das eines anderen – jedes anderen – gegen Irials eintauschen.«
»Hör dir doch mal selbst zu«, zischte Seth. »So macht man doch keinen Handel unter Elfen aus, Bruder.«
Keine der anwesenden Elfen würdigte Seth eines Blickes.
» Jedes anderen?«, fragte Far Dorcha.
»Jedes anderen.« Niall beugte sich auf seinem Thron vor. »Manche würde ich dir mit Freuden schenken, aber andere würde ich betrauern … Sag mir, welche Elfen du akzeptieren würdest. Dann tauschen wir.«
Far Dorcha wedelte mit der Hand durch die Luft und aus dem Nichts tauchten ein Tisch und zwei aus Knochen geschnitzte Stühle auf. Einer der Stühle rückte wie von Zauberhand unter dem Tisch heraus, während der Dunkle Mann sich ihm näherte. Die knöchernen Beine schrappten über den Betonboden.
»Was ist mit dem Mädchen? Leslie.«
»Leslie gehört nicht in deine Domäne. Sie ist sterblich «, protestierte Niall. »Du kannst nicht … nein. «
»Irial hat ihr von seiner Kraft abgegeben, er hat sie Teile seiner Unsterblichkeit aufnehmen lassen und sie mit Tränen und Blut an den Hof der Finsternis gebunden. Sie trägt seine Essenz in sich.« Far Dorcha setzte sich auf den Stuhl am Kopfende des Knochentischs, stützte die Ellenbogen auf und legte die Hände gefaltet vor sich. »Trotzdem behauptest du, dass sie nicht mir gehört? Wenn ich sie verlange, würdest du dich darauf einlassen?«
Niall trat zu dem anderen Stuhl. Dieser rückte für ihn unter dem Tisch hervor, doch er rührte ihn nicht an.
»Wenn ich dir sagte, dass ich ihr Leben, das immer noch kürzer ist als das einer Elfe, gegen seins eintausche, was würdest du dann tun?« Far Dorcha beobachtete Niall aus seinen tiefen Augenhöhlen. »Würdest du eine Liebe für die andere opfern?«
»Nein, aber du kannst mein Leben haben«, schlug Niall
Weitere Kostenlose Bücher