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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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begriffen, bleibt nie stehen. Manchmal klingelt das Telefon, und Jönas schrickt zusammen. Dann beklagt sich vielleicht ein Bauer über die Schafe des Nachbarn, Kinder haben eine Wand beschmiert, irgendwo ist eine Scheibe zu Bruch gegangen, ein Auto liegengeblieben, Pferdeäpfel mitten auf der Straße, Dinge, die halt passieren, doch dabei versuchten viele von uns, ihn zu schonen, wir fuhren vorsichtiger, tolerierten das nächtliche Krakeelen Betrunkener, schossen selbst streunende Hunde und verbuddelten sie in aller Stille, aber manches lässt sich eben nicht verhindern. Die Nacht ist lang und finster, sie raubt uns den Verstand – und manchmal ist die Welt eben nicht im mindesten gut.

Sechs
    Du solltest einmal einen der Bälle in unserem Gemeindesaal besuchen, auf die freuen wir uns immer unglaublich, sie bringen Leben in die Bude, der ganze Ort riecht nach Haarspray, Parfüm und Rasierwasser, denn unsere Partys sind eine vom Himmel geschickte Unterbrechung der langen und stillen Winter, in denen kaum etwas geschieht. Wir stehen ja sogar extra auf, wenn einmal ein Flugzeug vorüberfliegt. Unsere Bälle aber sind Großereignisse. Die Leitung des Gemeindezentrums hängt Anfang September den Terminkalender für den bevorstehenden Winter aus, und wir kreuzen die geplanten Ballabende mit Rotstift an, engagieren rechtzeitig ein Mädchen zum Babysitten, decken uns Tage vorher im Schnapsladen ein, bügeln schon am Donnerstag die feinen Sachen, bringen den Freitag ruhelos irgendwie herum, und der Samstag ist ein einziges Warten. Wenn es endlich Abend wird, sind wir so aufgedreht, dass wir nicht mehr an uns halten können und rumbrüllen und kreischen vor Freude. Jónas sitzt im Streifenwagen vor dem Gemeindezentrum, wie es lang geübter Brauch ist. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn, und in seinen Eingeweiden rumort es schon die ganze Woche wie in einem Kochtopf, er hört das Gebrüll und Gejohle, die den Ort in ein Tollhaus verwandeln. Einmal mussten wir Jónas von der Wippe vor der Schule losschneiden. Gemessen an der Schneeschicht, die auf ihm lag, hatte er dort mindestens zwei Stunden gehockt. Außerdem war der Polizeiwagen weg. Man fand ihn erst am nächsten Tag auf einem verlassenen Hof außerhalb der Ortschaft. Jemand hatte über das Armaturenbrett gepinkelt und auf den Fahrersitz geschissen. Nein, die Leute sind nicht immer nett, manchmal sind sie richtige Dreckschweine. In einer Sommernacht hat man Jónas mal aus seinem Auto gezerrt, die Gruppe Salin hans Jons mins spielte, eine schweißtreibende Nacht, und drei Typen flochten ihn in das Netz des Handballtors bei der Schule, du bist die Fliege, erklärten sie in aller Seelenruhe, und das sind die Spinnen, wobei sie auf zwei Frauen zeigten. Eine schlimme Nacht, Sommernächte entfesseln so einiges. Die beiden Spinnen schlitzten Jónas mit einem scharfen Taschenmesser die Uniform vom Leib. Zappel nicht so, sonst schneiden wir dich noch, sagten sie und holten tief Luft, als sie sahen, wie weiß er unter der schwarzen Kleidung zum Vorschein kam. Wie groß ist er denn, erkundigte sich einer der Männer und beugte sich vor, um besser zu sehen. Wohl eher klein, meinte ein anderer und lachte. Die eine Frau schob das Messer vorsichtig zwischen Haut und Unterhose, Jónas gab keinen Mucks von sich, manche Tiere setzen sich nie zur Wehr, das ist ihre eigentliche Verteidigung.
    Sie haben es nicht dir angetan, sondern der Uniform, sagte Sölrün, als sie ihn losschnitt, aber sag mir trotzdem, wer’s war, und ich mache ihnen die Hölle heiß. Jönas schüttelte den Kopf und sagte kein Wort, was er aber schließlich auch gar nicht brauchte, eine Dreißigjährige aus dem Ort beichtete alles, noch ehe der neue Tag aus der nächtlichen Helle heraufstieg. Sie gab sämtliche Namen an, darunter ihren eigenen; das schlechte Gewissen hatte sich gemeldet, sobald sie wieder halbwegs nüchtern wurde. Sie schrieb Jönas sogar einen Brief, dass sie sich schäme und ihr die Sache schrecklich leidtue.
    Aber was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht ungeschehen gemacht werden, es gestaltet deine innere Landschaft so um, dass Worte wenig daran zu ändern vermögen. Jönas saß in der Garage, las zoologische Bücher, zeichnete Vögel und zuckte zusammen, wenn das Telefon klingelte, manchmal schloss er die Augen und wollte sie nie wieder öffnen. Was Jönas anging, hatte so gut wie jeder von uns etwas auf dem Kerbholz, es gehörte schon fast zur guten Stimmung, ihm bei unseren Festen

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