Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
und lächelte, denn er hatte den richtigen Ton getroffen, und wir bewegten uns ein wenig leiser, um seine Gedanken nicht zu stören. »Ich war einunddreißig Jahre alt«, schrieb Finnur mit Füllhalter, denn Tinte ist dick wie die Nacht, die sich über die Welt ausbreitet. »Ich war einunddreißig Jahre alt«, seine Ellbogen ruhten auf dem massiven Holz, links davon ein Stapel von 500 weißen, unbeschriebenen Blättern, denn so viele sollte das Buch umfassen, so kurz ist das Leben des Menschen. Zu seiner Rechten drei dicke Ordner voller Zeitungsausschnitte, Briefe, alter Reden und Fotos. »Ich war einunddreißig Jahre alt«, Finnur seufzte und legte den Füller weg. Einunddreißig und heute achtundsechzig, die Zeit macht große Schritte. Er schaute auf das Blatt vor sich, auf den Halbsatz, der wie eine Regenwolke oben auf der Seite hing, schwer von Erinnerungen, schwer von siebenunddreißig Jahren, einem Menschenleben, dachte Finnur, lehnte sich zurück, und so vergingen Wochen. Der Mond nahm zu, und der Mond nahm ab. Das Mondlicht ist silbrigweiß, manchmal auch durchsichtig, es weckt Gedanken und Gefühle, mit denen wir schwer zurechtkommen, manche ziehen die Vorhänge zu, um nicht irre zu werden, anderen wachsen Flügel. Aus der Wolke ganz oben auf dem Blatt regneten keine Wörter, sie trocknete langsam ein, die Sonne schien durchs Fenster und die Tinte verblasste, das Leben eines Menschen.
Der Verleger rief an, ein dunkelhaariger junger Mann in Lederjeans, schlank, aber schon mit Bauchansatz und manchmal einem leicht speckigen Glanz im glatten Gesicht. Finnur hatte ihn ausgesucht, weil er Anschluss an die junge Generation suchte. Nenn mich einfach Jonni, hatte der Verleger bei ihrem ersten Treffen gesagt. Ich will solche Menschen wie dich verlegen, Finnur. Wir haben beide eine Pflicht zu erfüllen. Deine ist es, uns von den Vorgängen hinter den Kulissen zu erzählen und davon, wie sich das Rad des Schicksals dreht, von den folgenschweren Entscheidungen, die unser aller Leben beeinflusst haben. Meine ist es, das zu veröffentlichen, es sorgfältig zu verlegen und herauszugeben. Aber denk dran, Finnur, in diesem Business gibt es nur eine Regel: nämlich verdammt offen und ehrlich zu sein. Das Buch soll ein wichtiges Buch werden. Es soll die Menschen ergreifen. Du musst von den Mühen deiner Arbeit berichten, von dem schwierigen Ringen um die entscheidenden Fragen unserer Gesellschaft, von politischen Gegnern und Freunden, vor allem aber darfst du nicht mit persönlichen Problemen zurückhalten, und auch wenn das nicht unser eigentliches Anliegen ist, verkauft sich doch kaum etwas besser als eine kleine Portion Unglück. Ich wäre ein Lügner, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Und irgendwann sind wir doch alle einmal unglücklich gewesen, wozu also darüber schweigen? Und, Finnur, du solltest deine Leser auch mit ins Schlafzimmer nehmen, du sollst weinen und du sollst hassen, während du schreibst. Sei schonungslos, warm und anständig. Das ist die heilige Dreieinigkeit aller guten Bücher.
Nun also rief dieser Verleger, dieser Jonni, an.
Wie geht’s, Finnur?
Das Leben eines Menschen, sagte Finnur.
Ja, genau, völlig richtig. Schick mir doch schon mal das, was du fertig hast, wir können uns dann abstimmen, wie es weitergehen soll.
Unbedingt, stimmte Finnur zu.
Und nichts auslassen, Finnur, denk dran, Ehrlichkeit ist nicht bloß eine Zier – sie verkauft sich auch.
Vollkommen d’accord, sagte Finnur und fühlte, wie ihn plötzlicher Eifer packte.
Einfach straight away, Finnur, wir schaffen das!
Straight away, wiederholte Finnur, legte auf und ergriff den Füllhalter. Die Stimme, die durchs Telefon über Heiden und Berge gedrungen war, hatte das taube Gefühl beseitigt: »Ich war einunddreißig Jahre alt, als ich ins Parlament gewählt wurde, und es begannen die Jahre, auf die es ankam.«
Schon viel besser, sagte Finnur laut zu sich selbst und schlug den Ordner mit den Zeitungsausschnitten auf. Er am Rednerpult, er bei einem ersten Spatenstich, er im Althing, er mit ausländischen Staatsgästen, er bei Interviews, Bilder von ihm und seiner Familie, die drei Kinder und Anna, seine Frau, die vor drei Jahren starb; ja, das Leben, es kommt und es geht. Finnur saß am Schreibtisch, rief sich ins Gedächtnis zurück, worauf es ankam, erinnerte sich an etliche Reden, aber selten an ihren Anlass, er schrieb, die Tage vergingen, häuften sich zu Wochen, zu einem Monat, und wir Übrigen lebten unser
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