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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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sah die Geschmeidigkeit ihres Körpers, die Hüften, die sich unter dem langen Pullover bewegten. Scheiße, dachte er in seiner Ohnmacht und blickte auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, bis Sölrüns nächste Unterrichtsstunde begann. Mit raschen Schritten steuerte er auf die Schule zu.
    Der Gemeindevorsteher war noch nicht halb mit seiner Geschichte fertig, als Sigriður hereinkam. Kjartan ging auf sie zu, Davið ließ den Stuhl auf alle vier Beine sinken und riss die Augen auf, das Gemeindehaupt nickte kurz und ungeduldig, weiterlesen zu können. Sigriður hob die Klappe in der Theke und sagte: Holt eine Taschenlampe!
    Kjartan beeilte sich und trat damit so nah an Sigriður heran, wie er sich traute, aber nicht so nah, wie er gern gewollt hätte. Sie hatte ihre Haare im Nacken hochgesteckt, ihr Gesicht war glatt mit ein paar kleinen Fältchen in den Augenwinkeln, dezenter, weicher Parfümduft, ihre Brüste wie halbe Melonen unter dem roten Pulli. Kjartan reichte ihr die Taschenlampe, ihre Hände berührten sich, ihn durchströmte eine Mischung aus Wonne und dem Gefühl von Sicherheit, sie fühlte gar nichts, schaltete bloß die Taschenlampe ein, blickte ihn kalt an und sagte: Ich habe euch vertraut, ich habe euch eine Chance gegeben. Kjartan murmelte etwas von geplatzten Glühbirnen, völlig zusammengebrochener Stromversorgung und merkwürdigen Wahrnehmungen. Pff, machte Sigriður und verschwand mit der Lampe in der Halle. Der Gemeindevorsteher holte tief Luft, nahm die Mütze ab, strich sich über das schüttere Haar, räusperte sich und sagte: Teufel noch eins.
    Minuten später kam Sigriður aus dem Dunkel. Es sah wunderschön aus, sie ins Licht treten zu sehen! Das feingeschnittene, aber entschlossene Gesicht, ihr helles Haar, die braunen Augen, der schlanke Leib; in Kjartans Herz schlug eine Saite an, der Gemeindehäuptling zog noch einmal die Mütze und hielt sie sich vors Herz, als wollte er ihr einen Antrag machen, ein Liebeslied oder die Nationalhymne singen, doch Sigriður schaute weder rechts noch links, sondern gab Kjartan die Taschenlampe zurück und sagte bloß: Ihr hört noch von mir. Damit ging sie, absolut souverän; dem Gemeindevorsteher klappte der Mund auf, aber da war sie schon verschwunden, die Türen schlossen sich hinter ihr.
    Sigriður ging in den Laden, in ihr Abteilungsleiterbüro, ein kleines Zimmerchen auf einer Empore, zwei Treppen rauf, drinnen ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Aktenschrank, an der Wand hinter dem Schreibtisch eine Luftbildaufnahme des Ortes. Die drei anderen Wände bestanden aus Glas, und wenn Sigriður am Schreibtisch saß, konnte sie fast den ganzen Laden überblicken, die von Waren schweren Regale und die beiden Kassen, aber diesmal setzte sich Sigriður nicht an den Tisch, vielmehr zog sie ihren grünen Blouson über, ging hinaus zum Auto und fuhr am schwarzen Haus des Astronomen vorbei langsam zum Ort hinaus. Dahinter senkte sich allmählich der Bleifuß, und als Guðmundur aus dem Stall kam und seine Frau in rasender Fahrt herankommen sah, dachte er, es ist etwas passiert, und fühlte, wie Angst in ihm aufkeimte, ein kleiner Punkt tief im Unterleib, der rasch größer wurde, die Brust ausfüllte und von dort in Arme und Beine ausstrahlte. Kaum drei Minuten, nachdem Guðmundur das Auto erspäht hatte, bremste Sigriður schon mit blockierenden Reifen auf dem Hof, aber es gibt kaum Grenzen dafür, was einem in dieser Zeitspanne alles durch den Kopf gehen kann. Sie hatten drei Kinder, alle schon um oder über dreißig, zwei Mädchen, eine an der Universität in Akureyri, die andere Bäuerin im Norden des Bezirks, und einen Jungen, der auf die dreißig zuging und eine Tischlerei in Akranes betrieb. Vier Enkelkinder gab es, außerdem hatte Sigriður zwei Geschwister, Guðmundur vier, das machte schon mal vier nahe Verwandte, dazu kamen noch seine Eltern und ihre Mutter, sechzehn lebende Menschen also und ergo unzählige Möglichkeiten, dass einem von ihnen etwas zugestoßen sein konnte, ein schreckliches Unglück, das man lieber nicht übers Telefon mitteilt. Sigriður stieg auf dem Hofplatz voll auf die Bremse, sprang aus dem Wagen und ging geradewegs auf ihren Mann zu, der Motor lief noch, die Fahrertür sperrangelweit offen, Guðmundur hatte den Kopf voller Hiobsbotschaften, metastasierendem Krebs, Schlaganfall, ein Virus im Hirn, sogar Selbstmord, aber jetzt kam Sigriður auf ihn zu und hatte ihn noch nie so angesehen, ihre Augen so braun, dass keine Trauer aus

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