Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
findet, vielleicht einsam ist oder Angst vor der Dunkelheit hat, ist es eine ausgezeichnete Idee, die Zeit anzurufen; man hört zumindest eine Stimme, und die überzeugt einen sogar davon, dass die Zeit trotz allem noch existiert und sich nicht aus dem Takt bringen lässt, kein Grund zur Verzweiflung also. Das hätte Davið Benedikt mitteilen sollen, wenn der nicht besser gleich den Notruf 112 alarmiert oder eine Seenotrakete abgefeuert hätte. Aber das brächte natürlich nichts, er hätte lediglich eine saftige Geldstrafe und obendrein eine Standpauke bekommen, die sich gewaschen hatte. Der Notruf ist lediglich für Menschen in Lebensgefahr, hätte man ihm gepredigt, für Menschen in Seenot, mit Atembeschwerden, die unters Auto gekommen sind oder sich grässlich in unendlicher Einöde verlaufen haben, du aber hast in aller Gemütsruhe zuhause gesessen, was ist denn daran lebensgefährlich? Davið legte auf, kehrte an den Kaffeetisch zurück und schaute auf die Wanduhr: sieben Minuten, seit sie die Lagerhalle betreten hatten. Was für lange Minuten, dachte Davið, wenn ich die hintereinander auffädelte, würden sie bis zum Mond reichen. Er nahm auf seinem Stuhl Platz, lehnte sich zurück, schloss die Augen bis auf einen Spalt und fühlte, wie ihn Ruhe überkam, als würde sich das Bewusstsein in Nebel einhüllen und er selbst sich in einen einzelnen Ton im Dasein verwandeln, nur ein Ton, sonst nichts, und dann kamen sie zurück. Kjartan stützte Benedikt, der über etwas gefallen war und sich die Stirn aufgeschlagen hatte, er wirkte ein wenig benommen, und es sickerte Blut unter seinen dunklen Haaren hervor, der rote Quell des Lebens. Davið holte den Verbandskasten und säuberte die Wunde, Benedikt blieb noch eine Stunde bei ihnen sitzen. Davið krakelte »Über Mittag geschlossen« auf einen Zettel und klebte ihn außen an die Tür. Kjartan schenkte Kaffee ein, und Benedikt hielt seine Tasse fest, ohne zu trinken, und fühlte, wie der Becher langsam abkühlte. Sie unterhielten sich, Benedikt erwähnte das Thema Einsamkeit mit keinem Wort, obwohl sie wie ein Vogel ist, der einem beständig im Herzen nistet, aber manchmal verlor er den Faden, klinkte sich aus der Unterhaltung aus und starrte vor sich hin, seine Gesichtszüge wurden weicher dabei, seine Augen nahmen einen sensiblen und wunden Ausdruck an. Sie sprachen über die Lagerhalle, wärmten alte Geschichten über die darunterliegenden Hausfundamente auf, die in verschiedenen Varianten kursierten, und Kjartan gab zu, es sei schwer, in solcher zum Greifen dichten Finsternis klaren Kopf zu behalten, man würde sich rasch etwas einbilden, und wenn man damit erst einmal anfange, würde man leicht die Kontrolle verlieren.Das brauchst du mir nicht zu erzählen, meinte Davið. Ich habe noch nie eine Erscheinung gehabt, trau mich aber nachts trotzdem kaum ins Wohnzimmer, weil ich immer damit rechne, dass ein Toter auf der Couch sitzen könnte. Deshalb lasse ich auch nachts das Licht brennen.
Benedikt: Meine Mutter hatte das zweite Gesicht, sie sah zuhause oft Elfen über die Wiese laufen und behauptete, mein Urgroßvater würde hinter Papa hergehen.
Kjartan: Hast du jemals was gesehen?
Benedikt: Nein, und auch nie etwas gespürt. Papa meinte, wir hätten eben keine Phantasie, und Mutter sagte, es käme allein auf die Betrachtungsweise an, es ginge darum, sich für andere Welten zu öffnen. Ich weiß nicht, habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, außer an manchen Abenden, wenn mir langweilig war oder ich mich so fühlte, dass ich selbst die Gesellschaft von Geistern willkommen geheißen hätte! Benedikt lachte, aber aus seinen Augen lachte wenig Freude dabei. Als er gegangen war, sagte Davið: Dem geht’s auch nicht gut.
Kjartan: Wir sollten ihn öfter herholen, ich kann ihn gut leiden, und ihm würde es vielleicht helfen.
Davið: Ja, da hast du recht.
Schweigen.
Davið: Und da drinnen ist er einfach nur hingefallen? Kjartan: Scheißdunkelheit.
Fünf
Die Dunkelheit kann freundlich sein, siebeschert uns Mond und Sterne, das Licht der Nachbarn, das Fernsehprogramm, Sex und Whisky; wir sollten nicht schlecht von der Dunkelheit reden.
Kjartan erreichte endlich Simmi, und der kam zwei Tage nach Benedikts Besuch, die seltsamen Vorgänge im Lager hatten sich herumgesprochen, die ungewöhnlich schleppende Bedienung, der nicht funktionierende Gabelstapler, das beunruhigende Dunkel, solche Dinge machen bei uns schnell die Runde, aber es hat wohl kaum jemand von uns
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