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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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seinen Vater auf. Er ging nicht die Straße entlang, sondern watete durch die Schneewehen, die an ihrem Rand lagen. Sie saßen lange beieinander und redeten, zuerst über Lagerinn: Hast du etwas Ungewöhnliches bemerkt, fragte der Astronom seinen Sohn mit einem Funkeln in den Augen. Ja, gab Davið ohne Zögern zurück, oder zumindest glaube ich das …, habe es angenommen, aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich es beschreiben soll, vielleicht so, als würde einem andauernd etwas an den Nerven zerren. Wenn du in die Lagerhalle gegangen bist, hast du immer damit gerechnet, dass … na ja, irgendwas da zu begegnen. Aber sobald man wieder draußen unter Leuten war, kam man sich albern vor. Vielleicht wollte ich auch nur gern, dass mal etwas Rätselhaftes passiert, dass ich es mir bloß eingebildet habe. Du weißt doch, Dinge werden real, sobald wir sie in uns selbst herstellen. Und zwar so real, dass auch Kjartan sie auf einmal spürte und … nein, verdammt noch mal, Papa, lies mir irgendwas vor, ich mag nicht mehr in der Sache herumwühlen.
    Der Astronom erhob sich schwerfällig aus seinem Sessel, holte ein in braunes Leder gebundenes Buch aus dem Regal und las langsam und schleppend in der Sprache vor, die einmal die Welt beherrschte und jetzt dieses Zimmer in einem der abgelegensten Winkel der Welt füllte. Davið saß vorgebeugt und lauschte, er verstand wenig, sah aber eine schartige Befestigungsmauer vor sich, eine verlassene Stadt, über der schwarze Vögel kreisten. Der Astronom blickte hin und wieder auf und gab das Gelesene kurz wieder, und es schien gar nicht so weit von den Vorstellungen weg zu sein, die sich der Junge aus dem Lateinischen gemacht hatte. Als der Astronom fertig gelesen hatte, stand er auf, holte eine Flasche Rotwein, öffnete sie und schenkte zwei Gläser voll. Sie tranken, und Davið fragte: Ihr seid also der Meinung, dass es auf das Ende zugeht?
    Wäre das nicht ganz gut so?, fragte der Vater zurück und lächelte, fast ein wenig schelmisch. Er hielt das Glas gegen das Licht. Die Anzeichen dafür liegen jedenfalls offen zutage, Beispiele gibt es überall um uns herum, auf den Titelseiten der Zeitungen und der Hochglanzmagazine, du schaltest den Fernseher ein, und sie springen dir vom Bildschirm entgegen; sie sind einfach so auffällig, dass wir sie sehen. Aber was soll’s auch, die westliche Kultur hat ihre Zeit gehabt, viele Jahrhunderte lang, jetzt wird sie von anderen abgelöst.
    Super, sagte Davið und guckte in sein Glas, in die tiefrote Flüssigkeit; Dunkelrot kann die Gedanken in Träumen beeinflussen. Nein, natürlich ist es nicht super, sagte er, ich werde nur den Verdacht nicht los, dass alles bloß vom Zufall gesteuert wird, alles, sogar Sinn und Bedeutung. Die Vögel fliegen weiterhin über die Welt, was kümmert es sie, welche Zivilisation gerade am Ruder ist? Sein Vater schüttelt den Kopf: Ein solches Denken ähnelt einem schwarzen Loch, sagt er und stützt das Kinn in die Hand, wie um den Kopf besser halten zu können, all das Schwere, das in einem Menschenschädel stecken kann. Er leert sein Glas, füllt es erneut und sagt, indem er seinen Sohn gedankenverloren ansieht: Man sammelt die Bruchstücke einer sterbenden Kultur auf. Einer sterbenden? Wenn sie mal nicht schon tot ist oder bei lebendigem Leib verrottet, und damit bin ich wohl so etwas wie ein Lumpensammler und Müllmann. So habe ich mir das sicher nicht vorgestellt. Müllsammler, Verfall und die Sterne, eine ziemlich gute Mischung, was? Hörst du mir überhaupt zu?, fragt der Astronom plötzlich, als Davið nicht antwortet, ihn nicht einmal ansieht, sondern nur vor sich hin starrt, das leere Glas zwischen den Fingern. Einmal gab es nichts auf der Welt außer ihren Atemzügen. Aber was bedeuten das Treiben der Welt, Auf- oder Untergang von Kulturen, Zufall oder die Leere, wenn man keine Lippen zu küssen hat, keine Brüste zu streicheln, Atemzüge, die einem das Gehör ausfüllen?
    Ich wünschte, du hättest ein Klavier, Papa, sagt Davið unvermittelt und unterbricht damit die düsteren und schweren Gedanken des Astronomen, der sich zuerst über diesen überraschenden und leichtfertigen Einwurf seines Sohns ärgert, aber Daviðs betrübt stiller Gesichtsausdruck lässt seinen Ärger verfliegen. Vielleicht denkt er gerade an die Ungarin. Ich habe eine Mundharmonika, sagt er, und dann sitzen Vater und Sohn unter dem geöffneten Dachfenster, die Nacht hat Sterne über den Himmel gestreut, eine Flasche

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