Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
Whisky steht zwischen ihnen, und die Töne aus der Mundharmonika schweben zum Fenster hinaus, finden einen Stern und suchen nach einer Frau.
Wir fügen immer weitere Geschichten hinzu, es fällt uns schwer, es genug sein zu lassen, aber vielleicht ist es auch so, dass jemand, der vom Leben erzählt, dazu neigt, lange Fäden zu spinnen. – Alles, was wir tun, ist doch auf die eine oder andere Weise ein Kampf gegen den Tod. Matthias jedenfalls war aus dem Bus gestiegen, wenige Tage später eröffnete
Lagerinn
wieder unter seiner Leitung, sauberer, ordentlicher und besser organisiert als je zuvor. In der Halle strahlten die Lampen, der Gabelstapler surrte durch die Gänge, auf Matthias’ Schreibtisch stand ein Computer, Macintosh Performa, Aufträge wurden blitzschnell erledigt, und alles war ruhig, nichts Außergewöhnliches, keine Schemen, nichts Unerklärliches. Sicher haben wir diese Sache mit der Lagerhalle untereinander erörtert, Davið und Kjartan eingehend dazu befragt, auch Benedikt, nur Sigriður natürlich nicht, obwohl wir kurz davor standen. War denn alles bloß pure Einbildung, hatten Daviðs und Kjartans Nerven ihnen einen Streich gespielt, oder war es doch ganz klar ein Spuk? Es gibt vieles, das wir nicht verstehen, und manchmal laufen wir Gefahr, derart entblößende Fragen zu stellen, dass wir am Ende nackt dastehen.
Matthias erweist sich als jemand, der geradezu berufen ist, Dinge in Frage zu stellen, die wir in unserer Einfalt und Unüberlegtheit für selbstverständlich und normal halten. Spuk, sagt er, warum sollten wir nicht mit so etwas rechnen? Es gibt viel Aberwitzigeres als Spuk. Ich will euch ein schlagendes Beispiel geben: Millionen, ja, Abermillionen Menschen glauben, ältere weiße Amerikaner seien ein Glück für die Völker dieser Welt, konservative, beschränkte und gewaltbereite Männer, blind für die empfindlichen Fäden des Lebens, gefährlich für die zerbrechliche Zukunft der Erde. Wir aber jubeln ihnen zu, anstatt sie zu bekämpfen.
Er hat gar nicht mal so unrecht.
Und du weißt auch ganz genau, dass es hier, und damit meinen wir jetzt hier in Island, auf diesem Staubkorn unter einem endlos klaffenden Himmel, viele gibt, die nichts lieber möchten, als auf den Schultern dieser Männer zu sitzen und sich an ihrer Halsbeuge zu wärmen. Du solltest uns das erklären, wir sind verwirrt, man hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen, und nur die Leere hält uns noch – das ist keine angenehme Vorstellung. Du weißt auch, wenn wir weiterleben wie bisher, und jetzt reden wir von der gesamten Menschheit (manchmal machen wir große Sprünge), wenn wir unser Leben nicht ändern, unseren gesamten Alltag, dann wird es das Ende bedeuten. Wir rotten uns selber aus. Wir sind der Richter, das Hinrichtungskommando und der an den Pfahl Gebundene gleichzeitig. Und trotzdem leben wir einfach weiter, als wäre nichts selbstverständlicher. Idiotisch. Manchmal denken wir daran, an unüberlegte Handlungen, dummes Verhalten, idiotische Umstände und Verhältnisse, an das dusselige Leben.
Bei klarem Licht betrachtet, haben wir noch keine handfeste Erklärung für die Geschehnisse im Lager erhalten, vielleicht gibt es auch keine, oder vielleicht liegt sie in Lullas Traum, obwohl das nur wenige außer im Geheimen einräumen wollen, oder sie liegt womöglich in der Geschichte des Gemeindevorstehers. Jedenfalls erneuerten Simmi und Gunnar die komplette Stromversorgung der Halle, und die alten Leitungen waren auch völlig morsch geworden, reine Glückssache, dass es nicht längst einen Kabelbrand gegeben hatte. Seitdem Matthias
Lagerinn
übernommen hat, ist auf dem Boden über den Hausruinen auch nichts mehr abgestellt worden, und außerdem hat er zusammen mit Kjartan den Fußboden dort sogar ein Stück weit aufgehackt und ein Kreuz hineingesteckt. Das war ein bisschen verrückt, sieht aber im Tageslicht ganz nett aus, weniger dagegen, wenn die Schatten einfallen und es dunkel wird, dann sieht es ganz so aus, als befinde sich dort ein Loch hinab in die unendliche Finsternis. Nach Einbruch der Dunkelheit scheint sich niemand mehr in der Lagerhalle aufhalten zu wollen – so weit sind wir davon entfernt, die Dunkelheit überwunden zu haben, ob sie nun in uns, unter uns oder irgendwo draußen lauert.
Glückseligkeit
Wie kann ein Lastwagenfahrer nur so selig sein, dass nicht ein Schatten auf seinem Glück zu sehen ist?
Nachdem Simmi und Gunnar die Leitungen in Ordnung gebracht und Matthias und
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