Sommermond
dunkler als in einer üblichen Sommernacht. Schwarze Wolken hatten sich wie ein Schleier über die Stadt gelegt, der zu verbergen versuchte, was in den kommenden Stunden passieren würde.
Alex öffnete die Schublade seines Schreibtisches und zog die Geldscheinbündel heraus, die er von Pawlow erhalten hatte. Er nahm sie, drückte die Schublade mit seinem Becken zu und schritt zum Schrank. 140.000 Euro hielt er in seinen Händen. Das machte die Sache ernster. Er öffnete die Schranktür und zog das kleine Kokspäckchen hinter seinen Klamotten hervor. Er schüttete es aus, stopfte die Koksbeutel zurück zwischen seine Kleidung und behielt nur das Packpapier in seinen Händen. Er wickelte das Geld darin ein und achtete darauf, es möglichst stramm zu verpacken. Zum Schluss fixierte er die beiden Enden mit einem Streifen Tesafilm. Dann griff er nach einer dünnen Jacke, zog sie über sein Hemd und ließ das Geld in einer Tasche mit Reißverschluss verschwinden. Vor seinem Spiegel blieb er stehen und betrachtete sich mit zur Seite geneigtem Kopf. Er sah aus, als wollte er ausgehen. Seine Haare waren gestylt, seine Klamotten elegant. Es war fast, als hätte er sich bemüht, sein Erscheinungsbild möglichst attraktiv aussehen zu lassen, um sein Selbstbewusstsein aufzupeppen. Denn das war es, was er gleich brauchen würde: Selbstsicherheit. Er durfte sich keine Fehler erlauben und sich zu keiner Minute anmerken lassen, dass alles inszeniert war. Er musste Iwan etwas vorspielen und dabei so überzeugend wie möglich wirken. Alles hing davon ab, dass er seine Rolle gut spielte. Alles.
Er schritt zum Fenster und spähte nach draußen. Die Bäume tanzten wie groteske Schatten im aufkommenden Sturm, und die Elbe schlug wirre Wellen. Dann donnerte es. Alex zuckte erschrocken zusammen. Gleich nach dem Himmelskrach blitzte es grell auf. Alex stöhnte. Ein Unwetter war das letzte, was er gebrauchen konnte. Doch die Natur hatte ihren eigenen Willen. Erneut donnerte und blitzte es. Der Wind rauschte immer lauter zwischen den Baumkronen. Und dann begann es zu regnen – so plötzlich, als hätte man einen Schalter betätigt. Der Regen schlug gegen die Fensterscheibe und wurde schwallartig stärker. Alex drückte das Fenster zu und wandte sich ab. Er warf einen weiteren Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb zehn. Die Zeit schien zu schleichen. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Villa überpünktlich zu verlassen, um draußen auf Iwan zu warten. Doch das Unwetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Noch immer suchte er nach einem Gefühl von Angst in seinem Inneren. Doch da war keines. Er erinnerte sich daran, wie er sich vor dem ersten Treffen mit Pawlow gefühlt hatte. Da war er aufgeregt und nervös gewesen und hatte sogar damit gerechnet, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Er war überzeugt gewesen, dass ihm etwas zustoßen würde und hatte sich sogar auf eine seltsame Art und Weise von Jo verabschiedet.
Doch jetzt, wo ihm etwas wesentlich Heftigeres bevorstand, spürte er nichts. Sein Herz schlug ruhig in seiner Brust. Es war, als hätte er sich auf Standby geschaltet, um zwar noch funktionieren zu können, aber nicht mehr nachdenken zu müssen.
Er seufzte noch einmal und trat schließlich zur Tür. Er öffnete sie und ließ seinen Blick ein letztes Mal durch sein Zimmer schweifen. Dann trat er in den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Kaum dass er ein paar Schritte vorwärts gegangen war, hörte er Jo laut fluchen. Die Stimme kam von unten und klang verzweifelt. Alex zog seine Augenbrauen zusammen und schlich bis zur Treppe. Er spähte um die Ecke und sah Jo im Eingangsbereich auf- und abschreiten. Er telefonierte und fuhr sich unentwegt mit der Hand über die Lippen. Er war blass und wirkte nervös. Alex versuchte ein paar Worte aufzuschnappen, und es wäre ihm fast gelungen, als Jos Stimme sich erneut erhob, wenn nicht plötzlich Ben hinter ihm aufgetaucht wäre.
„Alex!“, rief dieser und eilte zu ihm.
Der Blonde drehte sich nur flüchtig zu ihm um, bevor er zurück zu seinem Vater schaute. Doch dank Ben hatte Jo ihn entdeckt. Er warf ihm einen festen Blick zu, murmelte etwas in den Hörer und verschwand anschließend im Arbeitszimmer. Die Tür fiel laut hinter ihm zu. Jos Verhalten kam ihm merkwürdig vor. Doch Ben ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Er trat auf ihn zu und riss ihn aus den Gedanken.
„Du musst los?“, fragte er.
Alex
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