Sommermond
Bens Wunden neu zu verbinden. Sie war sichtlich bemüht, vorsichtig zu sein. Dennoch schmerzten die Berührungen. Als sie fertig war, griff Ben nach dem weißen Hemd und zog es sich wieder über. Danach wartete er nicht mehr länger, bis er sich erschöpft zurück auf die weiche Matratze legte. Die ganze Prozedur war anstrengend gewesen.
„Ich sag oben Bescheid, dass Sie wieder abgeholt werden können“, erklärte die Ärztin.
„Und wie geht’s jetzt meiner Lunge?“, fragte Ben.
„Die Bilder müssen erst einmal ausgewertet werden. Die Ergebnisse erhalten Sie dann nachher bei der Visite.“
Ben verstand. Noch immer hoffte er, dass sich sein Zustand nicht verschlechtert hatte. Einerseits befürchtete er genau das, andererseits glaubte er nicht daran. Immerhin schaffte er es, aufzustehen und zu gehen. Das hätte er am Vortag noch nicht einmal in Erwägung gezogen.
Die blonde Ärztin rief in der anderen Station an, nebenbei arbeitete sie an ihrem Computer. Ben zog sich die Decke über den Körper und versuchte, sich auszuruhen. Er war noch so müde, dass ihm die Augen zwischenzeitlich zufielen. Als dann plötzlich Melanie Höfer neben seinem Bett stand und ihn mit einem Lächeln begrüßte, war er sich sicher, dass er tatsächlich ein paar Minuten eingeschlafen sein musste.
„Na, alles gut überstanden?“, fragte sie.
Ben nickte und schaffte es sogar zu einem Lächeln.
„Das hoffe ich doch“, erwiderte er.
„Dann bring‘ ich Sie mal zurück auf Ihr Zimmer.“
Ben drehte seinen Kopf zur Seite. Sein Bett wurde aus dem Raum gezogen, dann an den verschiedenen Lehrpostern vorbei durch die Röntgenstation und schließlich in den Fahrstuhl. Die junge Krankenschwester pulte an ihren Fingernägeln. Als sie wieder in der Chirurgie ankamen, schob sie ihn in schnellen Schritten zurück in sein Zimmer. Man merkte ihr an, dass sie von derartigen Aufgaben genervt war, obwohl sie dies gut zu überspielen versuchte. Ben war eigentlich nicht nach einem Smalltalk zumute, dennoch wollte er die junge Schwester aufmuntern.
„Sie werden bestimmt oft von irgendwelchen komischen Patienten angegraben, oder?“, fragte er und grinste. Bei einer durchschnittlichen Schwester hätte er ein derartiges Thema nie angesprochen, doch Melanie war etwa gleichalt und schien recht locker zu sein.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte sie zurück und duzte ihn unbewusst.
„Na ja, schlecht siehst du ja nicht aus …“
„Danke.“ Sie lächelte. Nebenbei öffnete sie die Tür zu Bens Zimmer und schob das Bett zurück an seinen Platz.
„Ich bin schwul“, fuhr Ben fort. „Also, vor mir brauchst du keine Angst haben.“
„Ach, wirklich?“ Sie drückte die Bremsen herunter und befestigte das Kabel mit der Klingel zurück an Bens Bett. Dann streifte sie sich eine ihrer glatten, glänzenden Haarsträhnen hinters Ohr. „Schade.“
Ben glaubte, sich verhört zu haben. Irritiert blickte er zu Melanie auf.
„Na ja“, sagte sie, „schlecht siehst du ja nicht aus …“
Daraufhin lachte Ben. Für einen Moment vergaß er all seine Sorgen und fühlte sich nicht schlecht dabei, für ein paar Sekunden abgelenkt zu werden.
„Momentan seh‘ ich alles andere als gut aus“, erwiderte Ben. „Ich seh‘ aus wie n‘ Zombie.“
„Ach, Quatsch!“, tat Melanie ab. „Du siehst super aus. Genau mein Typ … eigentlich.“
Ben lachte erneut.
„Dann tut’s mir leid!“, sagte er. „Du bist mir eindeutig zu weiblich.“
Sie lächelte als Antwort. Dann deutete sie mit ihrer rechten Hand Richtung Tür. „Ich muss dann wieder.“
„Ja, bis später“, verabschiedete sich Ben.
Er sah der Schwester noch einen Moment hinterher, bevor er das Lächeln von seinen Lippen trieb. Kaum war er wieder allein, kam die Erinnerung an die letzte Nacht zurück – kalt und angsteinflößend. Schließlich konnte er nicht mehr länger warten. Hastig streckte er seinen Arm aus und griff nach seinem Handy, um dann, ohne groß darüber nachzudenken, Alex‘ Nummer zu wählen. Der altbekannte Freizeichenton dröhnte in sein Ohr. Einmal, zweimal, dann ein Klicken.
„Ben?“, schallte ihm Alex‘ Stimme müde entgegen.
„Alex, wir müssen sofort reden!“, sprudelte es aus Ben heraus.
„Dir auch einen guten Morgen …“, entgegnete der Blonde. Ben konnte hören, wie er gähnte. „Was gibt’s denn so Wichtiges?“
„Das weißt du ja wohl besser als ich. Wer hat denn gestern die Bullen gerufen, hm?“ Ben unterdrückte seine Wut nicht länger.
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