Sommermond
verärgert an seinen Ex: „Entschuldige, aber die Entlassung war allein meine Entscheidung!“
„Und deine Verletzungen?“, brachte seine Mutter jetzt ein und legte erneut eine Hand an seine Seite. „Und die Schmerzen? Was sagen denn die Ärzte? Was, wenn es Komplikationen gibt?“
„Ich soll wiederkommen, wenn ich irgendwas Außergewöhnliches bemerke“, erklärte Ben, um seine Mutter ein wenig zu beruhigen. „Ansonsten soll ich mich schonen. Mehr nicht.“
„Wie willst du dich mit dem “, meinte Nick und deutete in Alex‘ Richtung, „an deiner Seite bitte schonen? Überall wo der auftaucht, kommt es zu Stress und Problemen.“
„Mensch, Ben, ich mach‘ mir wirklich ernsthafte Sorgen!“, sagte nun wieder seine Mutter.
Ben blickte bei jedem neuen Kommentar von Antlitz zu Antlitz. Ihm wurde schon ganz schwindelig.
„Ich fahre dich jetzt wieder zurück!“, meinte sein Vater entschlossen, trat vom Tisch weg und schob sein Handy in die Hosentasche.
Ben beobachtete ihn entsetzt. Die Situation überforderte ihn. Erst machte er nur eine abtuende Geste, weil ihm keine passenden Worte einfielen, doch dann stellte er sich seinem Vater selbstbewusst in den Weg und starrte wütend in die Runde.
„SCHLUSS JETZT!“, schrie er und löste damit eine wohltuende Stille aus. Nick hörte auf, irgendwas vor sich hin zu murmeln, sein Vater blieb stehen und seine Mutter senkte den Blick. Das Einzige, was jetzt noch zu hören war, war sein eigenes, aufgebrachtes Atmen.
„Ich hab‘ mich dafür entschieden, hier zu sein und Ende!“, fuhr Ben fort. „Ich bin niemandem eine Rechenschaft schuldig.“ Er pausierte rhetorisch und versuchte sich wieder zu beruhigen. „Ich weiß, dass ihr alle nur das Beste für mich wollt, aber im Moment bewirkt ihr genau das Gegenteil. Für mich ist es gerade das Beste, hier in der Villa zu sein. Bei euch und bei meinem Freund.“
Zum Ende seines Satzes zog er Alex‘ an seine Seite. Dieser warf ihm sofort einen verärgerten Blick zu.
„Hör auf mit dem Scheiß …“, nuschelte er.
Nick fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und drehte sich weg. Jo schien sich ein Grinsen zu verkneifen. Bens Mutter seufzte kaum hörbar und Bens Vater schritt zu seinem Platz zurück.
„Ich werd‘ mich jetzt erst mal ausruhen. Die Fahrt war anstrengend“, erklärte Ben. Er war wieder ruhiger geworden. Dann wagte er noch einen letzten Blick ringsum, bevor er sich endgültig von allen abwandte und zur Tür ging. Als Alex wie angewurzelt stehen blieb, drehte er sich noch einmal zu ihm um.
„Kommst du?“, fragte er auffordernd.
Alex warf ebenfalls einen letzten Blick in die sprachlosen Gesichter, bevor er kurz nickte und Ben schließlich folgte. Sie drückten die weißlackierte Holztür hinter sich zu und machten sich auf den Weg in die obere Etage.
Erst als sie bei der Treppe ankamen, gestand Ben wortlos seine Schmerzen. Er schaffte die Stufen nur sehr langsam, verzog sein Gesicht und klammerte seine Arme um den Brustkorb. Alex sprach ihn nicht darauf an, legte lediglich eine Hand auf seinen Rücken.
„Du hättest das lassen sollen“, sagte er.
„Das sagt mir ausgerechnet der unvernünftigste Mensch, den ich kenne?“, gab Ben trocken zurück.
„Aber ich riskier‘ nicht meine Gesundheit“, erwiderte Alex.
„Ach, nee …“, entgegnete Ben und tränkte seine Worte in purer Ironie. „Du riskierst lediglich dein Leben.“
Alex schwieg daraufhin, während Ben sich mühselig die letzten Stufen hinaufschleppte. Oben angekommen folgte er Alex durch den Flur. Er spürte den Teppich unter seinen Füßen und vernahm wieder den villatypischen Geruch. Es duftete nach Vanille und erinnerte ihn an den langen Winter, in dem er viel Zeit bei den Tannenbergers verbracht hatte. Es fühlte sich an, als ob er nach Jahren in die Villa zurückkehrte. Alles wirkte vertraut, aber gleichermaßen fremd. Er kannte jedes Detail der Villa: jedes Bild, jede Pflanze, jede Tür. Alles war noch wie vorher und trotzdem kam es ihm vor, als ob sich einiges verändert hätte.
Alex führte ihn in sein Zimmer, ließ ihm den Vortritt und folgte ihm schließlich. Leise drückte er die Tür hinter sich zu und blieb daraufhin unmittelbar vor ihr stehen. Ben sah sich um. Ihm wurde bewusst, dass er sich sehr gut in der Villa auskannte, nur nicht in Alex‘ Zimmer. In diesen vier Wänden war er zuvor erst ein einziges Mal gewesen und zwar in der Nacht, in der sie Sam tot vor der Tür gefunden hatten. Zu jenem Zeitpunkt
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