Sommermond
Seite und legte sich neben Alex. Der Blonde hielt das Fotoalbum in seinen Händen und fuhr mit seinen Fingern über das alte Leder. Dann schlug er es auf und blätterte ein paar Seiten um.
Auf der ersten Doppelseite klebten vier Bilder. Ben betrachtete sie neugierig. Auf ihnen war eine blonde Frau zu sehen. Es war die Frau, die Ben schon einmal auf dem Foto aus Jos Kommode gesehen hatte. Die Bilder schienen sechs oder sieben Jahre alt zu sein. Auf ihnen war Alex wesentlich jünger und alberte pubertär vor der Kamera herum.
„Ist das deine Mum?“, fragte Ben.
Alex nickte.
„Das ist schon ‘ne Weile her“, erzählte er. „Da war ich siebzehn. Die Fotos sind bei einem Urlaub in Italien entstanden. Mein Vater hat sie gemacht.“
Ben wusste nicht, was er sagen sollte. Er war erstaunt über das Vertrauen, das Alex ihm entgegenbrachte.
Der Blonde blätterte weiter. Auf der nächsten Seite saß er am Rand eines Springbrunnens und ließ seine Füße im Wasser baumeln. In seinen Händen hielt er eine Handpizza. Auf dem Foto daneben umarmte ihn seine Mutter. Sie trug ein weißes Kleid und lächelte stolz in die Kamera. Sie war sehr hübsch. Alex hatte viel Ähnlichkeit mit ihr.
„Da ging’s ihr noch gut“, erklärte Alex. „Mit dem Trinken fing sie zwei Jahre später an. Und von da an wurde alles anders.“
„Sie fehlt dir sehr, oder?“, fragte Ben vorsichtig.
„Bis kurz vor ihrem Tod haben wir uns kaum noch verstanden“, erzählte Alex und blätterte weiter. „Wir sind im Streit auseinander gegangen.“
Ben schluckte. Das waren harte Neuigkeiten.
„Am Ende wollte sie sich von niemandem mehr helfen lassen. Auch nicht von mir“, erzählte Alex.
„Wie ist sie –“, begann Ben, traute sich aber nicht, die Frage zu beenden.
Alex nahm ihm schließlich die Arbeit ab.
„An einer Überdosis“, sagte er. Er presste seine Lippen zusammen und wirkte ein paar Sekunden abwesend. „Als wir sie gefunden haben, war sie schon tot.“
„ Wir ?“, hakte Ben nach.
Alex nickte. „Wir kamen nach Hause, da lag sie reglos im Bett.“
„Scheiße …“, murmelte Ben.
Alex schwieg.
„Das tut mir so wahnsinnig leid …“, fügte Ben hinzu. Passende Worte schien es für ein solch traumatisches Erlebnis nicht zu geben.
Alex blätterte weiter. Auf der nächsten Seite begannen Fotos, auf denen er schon älter war. Ein Foto zeigte den Eiffelturm, ein anderes den Louvre.
„Von wann sind die?“, fragte Ben.
„Die sind zwei Jahre alt“, antwortete Alex. „Sebastian, mein bester Freund, und ich … Wir waren zusammen in Frankreich.“
Ben nickte wortlos. Er schaute sich die verschiedenen Bilder an. Alex‘ bester Freund war einen ganzen Kopf kleiner als Alex. Er hatte braune, kurze Haare und grinste auf jedem Foto.
„Er ist bei einem Autounfall gestorben“, fuhr Alex fort. „Vor knapp einem Jahr.“
„Oh, Mann …“ Ben verschlug es die Sprache. Er konnte kaum fassen, was für Schicksalsschläge Alex bereits getroffen hatten. Umso mehr konnte er nachvollziehen, wie Alex durch all den Kummer abgerutscht und auf die schiefe Bahn geraten war.
„Jab“, sagte Alex und tat übertrieben locker. „Erst meine Mutter, dann Sebastian und dann Sam. Und fast hätte ich dich auch noch verloren.“
Ben musste schlucken. Zwei unterschiedliche Gefühle breiteten sich in ihm aus. Zum einen ein unangenehmes Brennen aufgrund des ersten Teils von Alex‘ Aussage, zum anderen die Sentimentalität aufgrund des letzten Teils. Er schien Alex mehr zu bedeuten, als er bislang angenommen hatte. Eigentlich war er der einzige Mensch, den Alex hatte. Jo konnte man nur begrenzt hinzuzählen.
Er legte seine Hände auf die von Alex und drückte das Album vorsichtig zu. Dann nahm er es dem Blonden ab und legte es neben sich auf den Nachtschrank. Alex starrte ausdruckslos vor sich ins Leere. Vermutlich wusste er nicht damit umzugehen, derartige Details an jemanden weitergegeben und sich auf diese Weise ein Stück geöffnet zu haben.
„Mich wirst du nicht verlieren, okay?“, sagte Ben und versuchte einen Blickkontakt herzustellen.
Alex senkte den Kopf und starrte auf seine Beine.
„Und das mit Flensburg“, fuhr Ben fort, „das kriegen wir schon irgendwie hin. Notfalls komm‘ ich jedes Wochenende hier runter.“
Mit diesen Worten schaffte er es tatsächlich, Alex ein zurückhaltendes Lächeln zu entlocken. Der Blonde drehte sich zur Seite und erwiderte Bens Blick.
„Weißt du“, sagte er und fuhr sich mit der Zunge
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