Sommernachts-Grauen
von Trägern des Friedhofs, ihrem Bruder und Frank auf einen Wagen gehoben. Frank rang sichtlich mit seiner Fassung. Seine Wangen waren feucht und die Augen rot verquollen. Dieser Anblick rührte Ella, da sie ihm ansehen konnte, wie sehr er Manuela geliebt hatte.
Warum nur war es ihm nicht möglich gewesen, Manuela seine unendliche Liebe zu beweisen und sie damit davon abzubringen so schreckliche Dinge zu tun?
Als Frank und Manuelas Bruder, gefolgt von der kleinen, dicken Frau, die nun allein von dem älteren Herrn begleitet wurde, und dem Rest der Verwandten, die Kapelle verließen, konnte Ella nicht erkennen, wer der beiden Männer wen stützte. Alle beide schienen sich kaum länger auf den Beinen halten zu können und in Ella wurde der Wunsch, sich schnell von diesem Ort zu verabschieden, immer dringlicher.
„Lass uns abhauen“, hatte sie Meier ins Ohr geflüstert.
Der aber führte sie unbeirrt der Trauergemeine hinterher, als ob er sie nicht verstanden hatte. Draußen vor der Tür sah sie Reiner, der sich auf seine Krücken stützte. Mit leichtem Nicken signalisierte er, dass er sie gesehen hatte.
Reiner wirkte stark und geradezu zuversichtlich. Vielleicht war es doch gut, zu sehen, wie der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Vielleicht hatte Reiner recht. Und vielleicht würde Ella endlich ihr Leben zurückbekommen.
Nachdem der Pfarrer nochmals einige Worte und ein ‚Vater Unser‘ am offenen Grab gesprochen hatte, wurde der Sarg in die Tiefe des Lochs hinabgelassen. Manuelas Mutter trat mit dem älteren Herrn, der offensichtlich ihr Mann war, ans Grab und verabschiedete sich als Erste von ihrer Tochter.
Ella wollte sich nicht ausmalen, was die arme Frau fühlen musste. War es nicht schon schlimm genug, das eigene Kind zu verlieren? Unter diesen Umständen, war das ganz sicher kaum zu verarbeiten. Ella wusste, dass ihre eigene Mutter sicher noch am Grab ernsthafte Worte für sie gefunden hätte, sollte Ella auf diese Weise das irdische Leben verlassen haben.
Nacheinander traten die Trauernden ans Grab, beförderten Rosen zum Abschied in das Loch und schmissen drei Schaufeln Erde hinterher, um dann gebührend bei den Angehörigen zu kondolieren.
Reiner hatte Schwierigkeiten, mit den Krücken nicht im Sand zu versinken – der Regen der letzten Tage hatte den Boden vollkommen aufgeweicht – stütze sich immer wieder ab, bevor er endlich das Grab erreichte, sich umständlich nach der kleinen Schaufel bückte und Sand in die Grube schmiss, um sich dann wieder aufzurichten und erhobenen Hauptes, ohne ein Wort zu sagen, an der Familie vorbei, bei Frank stehen blieb und ihn tief in die Augen sah. Ohne ihn angesprochen zu haben, humpelte er davon.
Als Ella und Meier an der Reihe waren, glaubte Ella, das alles nicht länger ertragen zu können. Zudem sackte sie immer wieder mit ihren Pfennigabsätzen in den Untergrund. Meier schob sie geradezu an das Loch und nickte ihr ermutigend zu. Sie hörte das tiefe Schluchzen von Manuelas Mutter, griff nach der Schaufel, steckte sie in den Sand, kam dann jedoch nicht mehr dazu, sie gefüllt herauszuziehen.
Noch bevor sie begreifen konnte, was das für ein Schrei war, spürte sie den Luftzug eines auf sie springenden Menschen.
„Du Miststück, du hast sie zu Tode gehetzt“, schrie Frank, „das wirst du büßen. Du hast alles zerstört, was mir wichtig war.“
Das letzte, was Ella hörte, war das dumpfe Geräusch ihres Körpers, der auf dem Sarg landete. Ein Knacken durchzog ihren Körper und sie verlor das Bewusstsein.
Kapitel 22: Vergessen
„Und sie kann sich immer noch an nichts erinnern?“, fragte Claus, der rauchend in der Küche saß.
Ihm gegenüber hatte Reiner Platz genommen. Ein dicker Rollkragenpullover umhüllte seine schmächtige Figur, die er versuchte, durch regelmäßige Nahrungsaufnahme und ein wenig Sport üppiger wirken zu lassen. Kurze, akkurat geschnittene Haare zierten seinen Kopf.
„Nein, aber die Ärzte sagen, dass ihr Gedächtnis jederzeit zurückkommen kann.“
„Woran erinnert sie sich denn überhaupt?“
„Im Prinzip an alles vor dem 19. August.“
„Sie weiß also nicht, dass dieser Frank im Knast sitzt?“
„Nein.“
„Und Ella weiß auch nicht, dass der nicht nur eine durchgeknallte Freundin hatte, die sie umbringen wollte, sondern dass er selbst was damit zu tun hatte?“
„Woher weißt du das eigentlich?“
„Ey, Mann, ich lese Zeitung. Was ist denn da genau passiert? Du warst doch
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