Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
einander etwas vorsangen, zu einer Melodie, die so bezaubernd und verstörend war, dass ich die ganze Nacht hätte zuhören können, und doch lockte es mich zur Tür und zum Schlüsselloch.«
»Warum sollte man auch sonst ein Schlüsselloch in der Badezimmertür haben?«
»Genau! Zudem gab es vor diesem Abend gar kein solches Loch und auch keinen entsprechenden Schlüssel im Haus. Ich folgerte daraus, es könne nur einen einzigen Grund für das Schlüsselloch geben: Es war dort angebracht worden, damit ich die Frauen im Badezimmer beobachte.«
Der alte Mann klatschte vor Freude in die Hände. »Sehr gut, alter Junge. Deduktives Schlussfolgern vom Feinsten. Aber du hättest mich doch um dem Generalschlüssel bitten können.« Aus der Tasche seines Bademantels zog er einen altmodischen, schwarzen langen Eisenschlüssel mit einem Totenkopf am Griff. »Der schließt alle Schlösser in diesem Haus auf.«
»Aber du warst zu diesem Zeitpunkt nicht hier.«
Da meine Behauptung ihn zu verwirren schien, kratzte er sich mit dem Schlüsselbart am Kopf. »Stimmt. Dennoch. Du warst im Begriff, dein Auge an das Schlüsselloch zu legen, um die Mädchen zu betrachten …«
»Das hatte ich erwartet. Aber als ich durch das Loch spähte, hatte sich das Badezimmer in etwas verwandelt, das wie ein Meer und eine Felsküste aussah, ähnlich der von Maine oder Cornwall, einer zerklüfteten, nördlichen Region jedenfalls. Wellen rollten heran und brachen sich, und oben am blassblauen Himmel lachte eine Möwe und flog über den Rahmen hinaus. Ich blinzelte ungläubig, und rasch änderte sich die Perspektive, sodass mein Auge wie ein Zoom funktionierte und mir alles ganz nah erschien oder sich in mir das Gefühl einstellte, ich stünde im Sand, und die Felsvorsprünge wären so nah, dass ich sie berühren könnte. Wieder hörte ich den Gesang, ersterbende Klänge, während die Melodie von einer zur anderen Stimme überging. Und dann sah ich die Erste der sieben, nackt bis zur Hüfte, und wo ihre Beine gewesen waren, ein Fischschwanz. Sie alle waren Meerjungfrauen, Mädchen des Meeres, umwunden von Seegras, und sie sangen oben auf dem Felsvorsprung, um die Seeleute ins Verderben zu locken.«
Durch das offene Fenster drang eine einzelne Melodie an unser Ohr, das Morgenkonzert einer Spottdrossel, die um ein Weibchen warb. Ich fragte mich, ob ihr Rufen bedeute, dass bald die Morgendämmerung anbreche, doch ein rascher Blick auf meine Uhr enttäuschte mich. Das Gezwitscher verklang.
Beckett übernahm es, das Schweigen zu füllen. »Einsame Matrosen haben in ihrer Sehnsucht oft eine Herde Walrosse, die weit in der Ferne auf einer Eisscholle trieb, fälschlicherweise für eine Schar von Meerjungfrauen gehalten, bis sich dann das Schiff den gefährlichen Untieren näherte. Habt ihr je die Stoßzähne dieser Kerle gesehen? Zwei Dolche, so groß wie Männerbeine. Manche meinen, Meerjungfrauen seien eigentlich Manati, ein Süßwassersäugetier, das manchmal wegen seines friedlichen Verhaltens, der vegetarischen Lebensweise und dem außergewöhnlichen Gewicht auch Seekuh genannt wird. In Indien nennt man es, glaube ich, Dugong, aber da musst du deine Freundin fragen. Sita. Jedenfalls eine Verbindung, die recht weit hergeholt erscheint. Der Gesang der Meerjungfrauen ist, so habe ich es gehört, in Wirklichkeit der Gesang der Buckelwale, mit dem diese Kolosse einander rufen, wenn sie die Meere der Welt durchqueren. Weder an Land noch im tiefen blauen Meer wird man je einen bewegenderen Gesang hören.«
»Jawohl«, unterbrach Jane. »Der Buckelwal ist ein guter Sänger, und der Belugawal gilt als der Kanarienvogel des Meeres. Doch all diese Geschichten über Wale und Walrosse sind Unsinn. Noch nie hat ein erwachsener Mann so ein Wesen für eine Frau gehalten. Die langen Jahre an Bord eines Schiffs trieben die Seeleute in den Wahnsinn. Oben der Körper einer Frau und unten der eines Fischs, das ist reine Fantasie und zeugt von großer Sehnsucht und Angst. Ehe der Hurrikan auf uns einstürmte, verbrachten wir eine wolkenverhangene Nacht auf dem Meer, ohne Mond und Sterne, nur mit den Schiffslaternen und dahinter nichts als Finsternis und die rauschenden Wellen, die an den Schiffsrumpf schlugen. Neun Stunden hatte ich Wache und sah ins Nichts, ist es da ein Wunder, dass jeder verirrte Spritzer zu einem großen Seeungeheuer wurde und jedes Ächzen des Holzes bedeutete, dass die Spieren bald bersten würden, und jeder Seufzer eines schlafenden Mannes einen
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