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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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fügen sich ineinander – und immer wieder stoße ich dabei auf Claude.
    Claude war auf der Sommerparty. Claude und Maurice haben sich »gefetzt«… Claude ist sehr stark und kann sehr wütend werden, das hat mir Maurice sogar mal gesagt. Und was, wenn… Ich wage kaum weiterzudenken. Was wäre, wenn Claude… also, wenn Claude in diesen fünf oder zehn Minuten, die mir in meinem Gedächtnis fehlen, aufgetaucht wäre…?
    »Aber Claude hat ein Alibi.«
    Der Satz von Vivian trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube.
    Vivian hebt die Augenbrauen und sieht mich ernst an. »Er soll schon um halb elf zu seinen Eltern gegangen sein.«
    Sie hat meine Gedanken gelesen. Dass es Claude getan haben könnte – und nicht ich. Es ist lange nach halb elf passiert… Wieder eine kleine Hoffnung zerstört. »Ist noch was im Krug?«
    »Gut, das Zeug, was?« Leonies Augen glänzen und sie hakt sich wieder bei mir unter und seufzt. »Ach Ziska, sieh nach vorn! Glaub mir, das ist das Einzige, was dich retten kann.«
    Ich will etwas sagen, doch die Wörter verirren sich in den kurvigen Gehirnbahnen. Ich trinke einen großen Schluck.
    Leonies Gesicht schwebt dicht vor mir. »Alles okay?«
    »Klar«, lüge ich, »alles okay. Der Eistee ist super.« Ich halte mein leeres Glas hoch und irgendjemand gießt mir ein.
    Ich will mich nicht mehr erinnern. Von wegen, erinnern ist meine einzige Chance! Falsch, Dr. Pohlmann, vollkommen falsch! Meine einzige Chance ist zu vergessen!
    Und ganz allmählich erfüllt mich Trost. Das Gefühl steigt in meinem Bauch auf und verteilt sich über mein Blut in meinem ganzen Körper. Lange schon nicht mehr hab ich mich so wohlig warm und aufgehoben gefühlt. Sehr, sehr lange schon nicht mehr. Eigentlich noch nie… oder doch, ja, ein Mal in meinem Leben. Ein einziges Mal. Und jemand war dabei.
    Ich versuche, das Gesicht ins Dunkel des Vergessens zu verdrängen, aber es gelingt mir nicht. Ganz deutlich lächelt es mich an. Ich erkenne das Grübchen am Kinn und die braune Locke in der Stirn. Ja, ich bin glücklich und fühle mich unsterblich.
    Maurice. Das Gesicht gehört Maurice.
    Aber dann beginnt das Gesicht zu zerfließen, in der Mitte entsteht ein Wirbel, ein Sog, der alles mit sich in die Tiefe reißt, in einen bodenlosen Abgrund.

8
    Vergangenheit
    So schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ich war neu im Augustinus-Gymnasium. Jeder ließ mich spüren, dass ich nicht dazugehörte. Die Schüler und Schülerinnen aus den alteingesessenen Familien redeten nicht mit mir, der Fremden aus dem Norden, und diejenigen, die zugezogen waren, auch nicht, weil ihre Eltern mehr Geld verdienten, in größeren Häusern wohnten und teurere Autos fuhren als meine. Überhaupt kam es mir vor, als verdienten all die anderen Eltern spielend Unsummen von Geld, um es anschließend großzügig auszugeben, während meine Eltern jeden Cent zweimal umdrehten und die Arbeit eine einzige Plackerei war.
    Meine Eltern hatten die Tankstelle am Ortsausgang gegenüber der Bushaltestelle gepachtet. Eine grün-gelbe BP mit sechs Zapfsäulen, einer bescheidenen Halle für Reparaturen und Reifenwechsel und einer Autowaschanlage. Nicht so eine, in die man schmutzig reinfährt und sauber wieder rauskommt, ohne aussteigen zu müssen. Nein, eine, in der man sein Auto parken und dann wieder hinausgehen muss.
    Meine Mutter und mein Vater schufteten von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends, an Freitagen und Samstagen sogar bis ein Uhr nachts. Wir fuhren nicht in Urlaub, denn da hätten meine Eltern ja eine Vertretung bezahlen müssen. Wir wohnten direkt bei der Tankstelle, in einem grauen, von den Abgasen der Autos geschwärzten Kasten, der wohl irgendwann vor fünfzig oder auch vor tausend Jahren gebaut worden war. Das Schindeldach verlief steil zum Giebel und an der Vorderfront waren zwei kleine, eng beieinanderliegende Fenster und eine hohe, schmale Tür. So sah das Haus von vorn aus wie ein verkniffenes Gesicht. Es war das hässlichste Haus in ganz Kinding.
    Warum wir ausgerechnet nach Kinding ziehen mussten, einem begehrten und teuren Wohnort am Chiemsee, lag einzig und allein daran, dass die Pacht günstig und die Autos, die dort tankten, groß und durstig waren. Ich weiß, dass mein Vater eigentlich von einer supermodernen Autobahntankstelle träumte, an deren Zapfsäulen immer Autos Schlange standen und in dessen Cafeteria Berge von Croissants, belegten Brötchen, Eis und Zeitungen verkauft wurden.
    An unserer Tankstelle gab es das

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