Sommernachtsschrei
oder?«
»Welche Postkarte?«
16
Er hat mir nie eine Postkarte geschrieben. E-Mails schon. Aber so was Altmodisches wie eine Postkarte…
»Jetzt sag schon, was du meinst!«
»Zu Hause.«
Während der Fahrt reden wir kein einziges Wort. In meinem Gehirn torkelt das Wort Postkarte herum, ohne irgendeine Erinnerung freizuschalten. Posttraumatisches Belastungssyndrom mit Amnesien, habe ich Dr. Pohlmanns Diagnose im Ohr. Gedächtnislücken. Bisher hab ich geglaubt, die Lücke bezieht sich nur auf die wenigen Minuten im Bootshaus. Aber wer weiß. Die Seele schützt sich, indem sie vergisst…
Wer bin ich? Ich habe keine Ahnung. Das Bootshaus, die Erinnerung an Maurice, all das war zu viel. Etwas in mir hat abgeschaltet, ist abgestürzt. Alles um mich herum scheint so weit weggerückt. Als sei ein Teil von mir auf einem unteren Spiellevel zurückgeblieben.
Leonie parkt vor dem Haus, ich laufe hinter ihr die Stufen zu ihrem Zimmer hoch. Mechanisch bewegen sich meine Beine, irgendetwas hat ihnen befohlen, die Treppe raufzugehen. Und dann ist da diese unendliche Müdigkeit, die alles in mir lähmt. Ich will nur noch schlafen, fliehen in die Dunkelheit des Vergessens.
»Ziska!« Ich erschrecke. Leonie hat sich zu mir umgedreht und sieht mir fest in die Augen. »Ziska, ich will dir nicht wehtun, das musst du mir glauben. Aber… aber es könnte einen Grund geben, dass du es getan hast.«
»Maurice erschlagen?«, frage ich matt. Diesmal zucke ich bei den Worten noch nicht mal mehr zusammen.
»Ja.« Sie geht zum Bücherregal, das die Hälfte der linken Zimmerwand einnimmt. Vor den Büchern stehen Glasfigürchen und ein paar gerahmte Fotos.
Sie atmet tief durch. »Bist du sicher, dass du… dass du die Wahrheit ertragen kannst?«
Die Wahrheit? Das Wort rüttelt mich auf. Leonie kennt die Wahrheit? »Ertragen? Leonie, ich WILL die Wahrheit! Deshalb bin ich hergekommen! Ich will Licht in diese dunkle Kammer in meinem Hirn bringen!«
In ihrem Blick liegt auf einmal etwas Sorgenvolles und Mitfühlendes.
»Aber es könnte wehtun, sehr weh… und dir etwas nehmen… etwas…« Sie bricht ab und schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, Ziska, ob ich dir wirklich…«
»Jetzt mach schon!«, schreie ich sie an und merke, dass ich sie an den Armen gepackt habe und schüttele. »Entschuldige«, murmle ich erschrocken und lasse sie los. Gott, ich bin wirklich total durch den Wind. »Bitte, Leonie, ich muss es wissen. Egal, was es ist.«
»Okay«, sagt sie schließlich. »Aber… das, was ich dir jetzt zeige, darf nichts an unserer Freundschaft ändern! Es war nicht meine Schuld. Das musst du mir glauben.«
»Ja!«
»Versprich’s mir!«
»Ich versprech’s dir! Jetzt mach schon!«
Sie nimmt zwei ihrer Harry-Potter-Bände aus dem Regal und greift dahinter. Sie zieht ein mit Muscheln besetztes Kästchen hervor.
Wir setzen uns auf ihr Bett. Das taube Gefühl ist wie weggeblasen und ich fühle wieder die altvertraute Angst in mir.
Sie nimmt die Kette vom Hals und jetzt sehe ich den kleinen goldenen Schlüssel daran baumeln. Sie steckt ihn ins Schloss und dreht ihn.
Die Schatulle ist mit rotem Stoff ausgeschlagen. Ganz obenauf liegt eine Postkarte. Wortlos reicht sie sie mir.
Es ist eine dieser kostenlosen, die in den Cafés und Kneipen in Ständern hängen. Die Karte zeigt auf schwarzem Hintergrund ein Martiniglas mit einer roten Flüssigkeit und einer auf den Glasrand gesteckten halben Zitronenscheibe.
»Du kannst dich wirklich nicht daran erinnern?«, fragt sie und sieht mir fest in die Augen.
Stumm starre ich auf die Karte in meinen Händen. Ich habe sie noch nie gesehen. »Nein.«
»Dreh sie um«, sagt Leonie.
Auf der Rückseite steht in blauer Kugelschreiberschrift:
Freu mich auf die Nacht mit dir.
Maurice
Mein Herz setzt einmal aus. Ich atme nicht. Das ist nicht real, sagt mir eine Stimme. Doch in meinen Händen liegt die Postkarte.
»Na und«, sage ich möglichst unbeeindruckt, »er hat mir nicht verschwiegen, dass ihr mal zusammen wart. Ein oder zwei Wochen oder so.«
»Dann sieh doch mal aufs Datum.«
14. Juli. Das war ein Tag vor der Abschlussparty am See. Ein Tag vor seinem Tod. Ein Tag, bevor ich ihn mit dem Ruder…
Etwas drückt mir den Hals zu. Mein Herz stolpert. Mein Mund ist schlagartig trocken, dass mir die Zunge am Gaumen klebt. Ich will aufstehen, rausrennen, irgendwohin, doch da dreht sich alles, ich taumle zurück aufs Bett.
»Ich versteh nicht…« Ich schlucke gegen diese Trockenheit in
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