Sommernachtsschrei
die Augenbrauen. »Warum?« Plötzlich flüstert sie. »Streng mal dein Hirn an. Oder haben sie es dir im Gefängnis mit Elektroschocks weggebrannt?« Sie macht krampfartige Bewegungen.
»Du redest Schwachsinn!«
Ihr Gesicht zuckt und dann werden ihre Augen ganz schmal und bedrohlich. »Ich rate dir zu verschwinden, bevor irgendwelche Beweise auftauchen.«
»He, drohst du mir?«
»Nö.« Sie dreht sich um und geht.
»Mach verdammt noch mal die Tür zu!«, rufe ich ihr hinterher, doch sie hört nicht mehr oder will nicht mehr hören.
Leonie kommt ins Zimmer und sieht sich um, als habe sich irgendwo ein Geist versteckt.
»Deine Schwester war hier.«
»Nadia?«
»Ja, oder hast du noch eine Schwester?«, antworte ich mürrisch.
Leonie verdreht die Augen. »Was wollte die schon wieder?«
»Sie hat gesagt, du bist nicht ganz richtig im Kopf.« Ich weiß, dass ich gerade eine Petze bin.
»Was?« Leonie ballt die Fäuste und wendet sich zur Tür. »Dieses miese Stück, der werd ich’s zeigen!«
»Halt, nein!«, bremse ich sie. »Komm, lass sie. Ich glaube, sie hat echte persönliche Probleme.«
Leonie stöhnt laut und wirft die Hände in die Luft. »Denkt die, sie ist die Einzige mit persönlichen Problemen?«
»Sie ist vierzehn!«
»Fast sechzehn! Du hörst dich plötzlich an wie eine Heilige.«
»Ach Quatsch. Ich denke nur, jemand wie sie, der sich umbringen wollte…« Rede ich hier nicht gerade auch von mir? Hab ich nicht dieselben Absichten? Gehe ich nicht deswegen wieder in die Klinik?
»Hör mir jetzt damit auf, ja! Kapierst du denn nicht, dass sie mit dieser Drohung alle in der Hand hat? Meine Mutter, Dad, mich – und ja, alle; alle anderen, die davon erfahren, fassen sie mit Samthandschuhen an. Die arme Kleine! Ach Gott, unser armer Liebling! Was hat sie nur? So geht das die ganze Zeit! Und was ist mit mir? Mich kann man ja anschreien und für alles zur Rechenschaft ziehen, aber bitte die arme Nadia doch nicht, sie könnte sich ja etwas antun!«
Sie ist laut – und rot im Gesicht geworden.
Ich greife nach ihrer Hand und halte sie fest. Sie zittert. »Leonie, komm, hör auf, ich verstehe dich schon.«
Leonie reißt sich los. »Du verstehst gar nichts! Neulich hat sie einfach eine Schere genommen und in die Teppiche reingeschnitten! Dann hat sie sich ein paar Bücher im Wohnzimmer vorgenommen und Seiten abgeschnitten, immer die Hälften weg, damit man keinen einzigen Satz mehr lesen konnte! Meine Eltern wollten sie in ein Internat stecken. Ich war diejenige, die sich auf Nadias Seite gestellt hat. ›Nein, sie soll nicht in ein Internat‹, hab ich losgebrüllt, ›sie soll hierbleiben!‹ Und was ist der Dank?« Sie zieht die Nase hoch und schüttelt den Kopf. »Hast du mal ihr Zimmer gesehen? Die ist total durchgeknallt. Ich bin echt voll blöd, dass ich ihr auch noch helfen wollte!«
Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Dass Nadia nicht gerade einfach ist, ist mir klar, aber dass sie so merkwürdige Dinge tut…
»Tut mir leid, ich wusste ja nicht, was du hier durchmachst. Aber das ist bei Nadia bestimmt nur eine Phase. Und… und ich glaub doch gar nicht, dass du krank im Kopf bist.«
Einen tiefen Atemzug lang sieht sie mich an, dann lächelt sie. »Ja, ich weiß, dass du mich verstehst.« Sie seufzt schwer. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es für mich war, als sie dich eingesperrt haben. Ach, Ziska, es tut mir so leid, dass ich dir all die Monate nur geschrieben habe. Ich weiß nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen kann!« Verzweifelt sieht sie mich an.
Ich drücke ihre Hand. »Ich hab mich immer über deine Briefe gefreut.«
Sie kann nur noch nicken, dann laufen ihr die Tränen über die Wangen.
»Ach Leonie«, sage ich. Und endlich muss ich weinen. Nach so langer Zeit brechen sie aus mir hervor, die Tränen, so lange zurückgehalten, werden sie zu Sturzbächen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen, endlich aus den Tiefen befreit, reißen sie alles mit sich, das sie aufhalten will. Es gibt kein Zurück mehr. Dieser Gewalt der Entladung kann nichts Einhalt gebieten.
Irgendwann kommen keine Tränen mehr. Die Flüssigkeit ist aufgebraucht. Leonie hält ein Päckchen Tempos in der Hand, zieht ein Taschentuch für sich und eins für mich raus.
Gemeinsam schnäuzen wir und dann müssen wir lachen, weil es uns plötzlich so komisch vorkommt, gleichzeitig die Nase zu putzen.
»Mensch, Ziska, ich hab dich so vermisst. Warum nur ist alles so
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