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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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sagt Leonie und lächelt mir zu. »Es geht vorüber.«
    Ich nicke, ohne es zu glauben.
    »He, und schick mir deinen neuen Song!«
    »Ja, mal sehen.« Meine Songs sind viel zu traurig geworden.
    »Dann werden wir an dich denken!«
    »Ja.« Ich bin leer. Eine Hülse aus kaltem Metall.
    Leonie steuert auf die Bushaltestelle am alten Bahnhof Kinding zu, wo gerade ein Taxi wegfährt, aus dem zwei Mädchen ausgestiegen sind. Vivian und Maya!
    »Na?« Leonie grinst mich an. »Überraschung gelungen? Wir können dich doch nicht einfach so gehen lassen!«
    »Ach, Leonie, ich weiß gar nicht…«
    Sie legt mir die Hand auf den Arm. »Sag nichts. Es ist okay.«
    Ich nicke, hole Luft und steige aus.
    Maya und Vivian fallen mir um den Hals. Ich gehöre zu ihnen, ich wollte es nur die ganze Zeit nicht glauben. Und jetzt steigen mir doch Tränen in die Augen.
    »Mach’s gut!« Maya gibt mir einen Kuss auf die Wange und Vivian haut mir auf die Schulter. »Die Polizei wird auch jetzt keine neuen Beweise finden. Bestimmt. Und vergiss deine Freundinnen nicht!«
    »Nein…« Mehr bringe ich nicht heraus.
    »Und vielleicht kommst da ja mal wieder… «, sagt Maya.
    »Vielleicht… irgendwann…«, sage ich und Leonie seufzt. Hinter ihr sehe ich den Bus einbiegen.
    Wir umarmen uns noch einmal, dann hebe ich meine Tasche auf und gehe. Ich lasse mich auf den ersten freien Platz sinken, und obwohl ich weiß, dass es manchmal besser ist, sich nicht mehr umzudrehen, sehe ich doch aus dem Fenster hinaus.
    Da stehen sie. Maya, Leonie und Vivian. The Fling – ohne mich. Sie schauen zu mir hoch und Leonie hebt als Erste die Hand und winkt. Ich winke zurück, meine Hand fühlt sich schwer und traurig an. Und dann winken auch Maya und Vivian. Vivian versucht ein aufmunterndes Lächeln, Leonie und Maya kriegen es nicht hin. Sie sind erleichtert, dass ich abfahre. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Jetzt werden sie nicht mehr jede Sekunde an das, was passiert ist, erinnert.
    Als der Bus endlich anfährt, drehe ich mich noch einmal zu ihnen um. Leonies Hand ist in der Luft stehen geblieben, nur Vivian winkt noch weiter. Plötzlich habe ich das Gefühl, sie nie mehr wiederzusehen. Vielleicht ist es ja besser so.
    Ich lehne mich zurück und sehe aus dem Fenster. Doch die Sonne ist längst untergegangen und ich sehe in der Scheibe nur die unscharfe Reflexion eines Gesichts. Das bist du, Franziska, sieh hin, du kannst nichts mehr verleugnen!, denke ich. Mein Ausflug in die Vergangenheit hat gerade mal vierundzwanzig Stunden gedauert. Vierundzwanzig Stunden, die mich endgültig zur Täterin gemacht haben. Toll, Franziska, ganz toll! Was soll ich nur meinen Eltern sagen?
    Ich müsste sie eigentlich anrufen und ihnen Bescheid geben, dass ich auf dem Heimweg bin. Aber ich könnte jetzt die Stimme meiner Mutter nicht ertragen, wie sie sagt: »Franziska, um Himmels willen, was ist denn passiert?«
    Und ich könnte noch weniger darauf antworten: »Mama, ich war es doch. Ich hab Maurice umgebracht.«
    Er wollte nach der Schule auf verschiedenen Baustellen seines Vaters arbeiten. Dann ein halbes Jahr Urlaub machen. Einfach nur von einem Tag auf den anderen leben. Spaß haben, Menschen kennenlernen. Seine Noten waren überdurchschnittlich, er war nett, hilfsbereit, sympathisch… er hätte geheiratet, eine Familie gegründet, Kinder großgezogen… und ich habe dieses Leben einfach vernichtet. Mit welchem Recht? Nur weil er Leonie ein Liebesbekenntnis geschrieben hat, während er sich mit mir traf? Er war doch nicht mein Eigentum! Wenn ich nüchtern gewesen wäre, wäre das nie passiert. Niemals!
    Auf einmal habe ich das Gefühl, dass all die Menschen im Bus wissen, was ich getan habe. Wie sie mich anstarren! Ich drehe mich wieder zum Fenster, aber mir kommt es so vor, als ob auch die Welt da draußen weiß, was ich getan habe. Dass ich eine Mörderin bin. Jeder Baum, jeder Grashalm scheint mir zuzuraunen, dass ich kein Recht mehr habe zu leben, während Maurice tot ist.
    Plötzlich frage ich mich, wie ich mit dieser Gewissheit, dass ich schuld an seinem Tod bin, weiterleben soll. Wie ich meinen Eltern gegenübertreten soll. Wie ich mich jeden Tag im Spiegel ansehen soll. Wie ich…
    Menschen verschwinden einfach. Verlassen das Haus und kommen nie wieder zurück. Steigen in ein Flugzeug, in einen Zug oder einen Bus und fangen irgendwo ein neues Leben an. Oder beenden es…
    Die nächste Haltestelle ist Prien.

18
    Der letzte Schein der Dämmerung ist inzwischen

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