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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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Geschwafel ist mir zu viel. Er tut das, um mich einzulullen, denke ich, und dann, wenn ich vertrauensvoll meine Augen zumache, biegt er in einen Feldweg ab oder fährt sonst wohin.
    Das Ticken des Blinkers reißt mich aus meinen Gedanken. Ist es wirklich möglich, dass alles so passiert, wie ich es mir vorgestellt habe?
    »Wohin fahren wir?«, frage ich ungläubig, während ich vor mir eine schmale Straße sehe, gesäumt von Bäumen, deren Stämme im Scheinwerferlicht wie aus dem Nichts kurz hell aufleuchten und wieder in der Dunkelheit versinken.
    Er antwortet nicht. Ich versuche, den Nebel, mit dem der Alkohol mein Gehirn umgeben hat, zu durchstoßen. Zum Glück bin ich eingeschlafen, noch bevor ich die Tabletten genommen habe… Aber warum hab ich plötzlich Angst? Ich wollte es doch so.
    Die Straße wird schlechter, doch er fährt nicht langsamer.
    Meine Hand tastet zum Türgriff. Er drückt auf einen Knopf, es klackt. Ich muss es gar nicht erst probieren: Er hat die Türen verriegelt.
    So geschieht es. Jetzt weiß ich es.
    Meine Hinrichtung. Meine gerechte Strafe. Wer behauptet, es gäbe keine Gerechtigkeit auf der Welt?
    Da sieht er zu mir herüber. Sein linkes Auge liegt im Schatten und jetzt, als ich nur sein gesundes, rechtes sehe, fällt mir auf, dass es die verletzte Seite ist, die ihn vertrauensvoll macht. Die rechte Seite grinst hinterhältig.
    Er fährt langsamer. Ich habe das Gefühl, einen Film zu sehen. Ich sitze irgendwo vor einem Fernseher oder im Kino, nicht in diesem Auto, neben diesem Typen. Die Baumstämme werden deutlicher, fliegen viel langsamer vorbei, ein ausgefahrener Feldweg tut sich auf. Etwas in mir sträubt sich zu akzeptieren, was geschieht. Es muss ein Albtraum sein.
    »Mach mal das Handschuhfach auf«, sagt er und stellt den Motor ab. Ich tue es.
    »Die ist für dich. Nimm einen Schluck, den Rest gibt’s danach.«
    Er meint die Wodkaflasche. Dann rutscht er sich bequem im Sitz zurecht und greift an seinen Gürtel.
    Nein, so nicht! So stelle ich mir meine Hinrichtung nicht vor! Etwas in mir regt sich. Ich will hier raus! Wut flammt in mir auf.
    »Weißt du, dass du eine Mörderin im Auto hast?« Die Flasche in meiner Hand ist kalt und hart.
    »Was?« Sein Kopf fliegt zu mir herüber. Er grinst gezwungen.
    »Es wird also nicht so leicht mit mir.«
    »Wovon redest du?« Noch immer sein blödes Grinsen. »Schraub die Flasche auf, nimm einen Schluck! Darauf fährst du doch ab, du kleine Schlampe, komm schon!«
    Er will zu mir herübergreifen, da schaltet sich in mir etwas an. Ich weiß nicht, was, ein Generator oder irgendwas, etwas, das plötzlich Power in mich jagt, ich schlage den Flaschenhals auf die Kante des aufgeklappten Handschuhfachs, süßlicher Alkoholgeruch erfüllt sofort das Auto, ich stoße ihm die Flasche mit den scharfen Zacken nahe vors Gesicht.
    Er zuckt zurück, will mein Handgelenk packen, doch ich bin schneller, ich weiß nicht, warum, als hätte ich jahrelang geschlafen und wäre nun endlich aufgewacht, ich ramme ihm das Glas an sein Ohr, er schreit auf.
    »Pass auf: Ich hab tatsächlich jemanden umgebracht!«, zische ich ihm ins blutende Ohr. »Und jetzt fahr mich zurück!« Meine Stimme bebt vor Zorn. »Zurück zum Bahnhof!«
    Er ist erstarrt.
    »Zurück!«, brülle ich ihm ins Ohr, »zurück!« Ich schreie die Zeit im Gefängnis heraus, meinen Schmerz, meine Trauer, meine Wut, meine Angst – und meine Verzweiflung. »Zurüüüüück!«
    Er nickt nur, und als er die Hände zum Lenkrad ausstreckt, sehe ich, dass sie zittern.
    Wir sprechen nichts mehr. Er wendet und fährt zurück auf die Hauptstraße, während ich mich zurücklehne und die Flasche wie eine Waffe in der Hand halte, bereit zuzustoßen.
    Plötzlich weiß ich, wo wir sind. Rechts leuchtet weiß der Kies des Parkplatzes am See auf. Ich will nicht zurück zum Bahnhof. Ich will auch nicht zurück zu meinen Eltern. Nicht jetzt. Ich muss allein sein, zu mir kommen…
    »Halt an! Lass mich hier raus!«, schreie ich.
    Er tritt sofort auf die Bremse.
    Ich mustere ihn noch einmal, aber er sieht mich nicht mehr an, will mich nur noch loswerden. Also mache ich die Tür auf, steige aus, mache die hintere Tür auf, hole meine Tasche heraus, werfe ihm die Flasche auf den Beifahrersitz, dann die Türen zu. Mit quietschenden Reifen fährt er davon.
    Jetzt erst fange ich an zu zittern. Die feuchte Nachtluft ist auf einmal kalt und ich schlottere, klappere mit den Zähnen. Mein Herz fühlt sich an wie ein gefangener,

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