Sommernachtsschrei
verloschen. Es ist dunkel. Nur die Straßenlaternen glimmen milchig. Bahnhöfe bei Nacht haben etwas Trostloses. Einsame Menschen, die auf den leeren, windigen Bahnsteigen stehen, schmutzig graue Stahlträger und Mauern – ein Durchgangsort, nicht gemacht zum Bleiben.
Die Frau am Kiosk rollt gerade den Zeitungsständer um die Ecke. Da fällt mein Blick durch das offene Verkaufsfenster zu den kleinen Whisky- und Cognacflaschen. Selbstständig, als wäre ich nicht mehr Herr meiner Sinne, langt meine Hand durch die Öffnung und schnappt sich vier, nein fünf Whisky-Fläschchen. Blitzschnell lasse ich sie in meine Umhängetasche gleiten und drehe mich um. Ohne Notiz von mir zu nehmen, geht die Frau an mir vorbei und schiebt den Ständer mit den Postkarten nach hinten.
Vor dem Bahnhof ist es dunkel und still. Es riecht nach feuchter Erde. Ich weiß, dass es hier passieren soll, und lasse mich von etwas leiten, das die Kontrolle über mich übernommen hat. Meine Beine gehen rechts um die Ecke. Dort ist es noch dunkler. Keine Laternen, von der Straße aus kann man diese Seite des Bahnhofsgebäudes nicht einsehen. Dort hocke ich mich auf den Boden und meine rechte Hand dreht die erste Flasche auf. Reflexartig schlucke ich, der Whisky brennt auf meiner Zunge und in meinem Hals. Aber egal, ich kippe alles runter und diese wunderbare Wärme breitet sich in mir aus. Die zweite Flasche schmeckt besser. Die dritte trinke ich in kleinen Schlucken.
Mit dem Inhalt der letzten Flasche werde ich nachher die Tabletten runterspülen. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Tasche auf und krame die Packung Schlaftabletten hervor, die ich im Badezimmer von Leonies Eltern im Spiegelschränkchen gefunden habe. Ich muss an Nadia denken und ein albernes Kichern steigt in mir auf. Wie konnten die Eltern die Tabletten nur im Badschrank verstecken, wo sich ihre Tochter damit schon einmal fast umgebracht hat? Mein Lachen geht in einen Schluckauf über. Aber was interessiert mich schon Nadia? Hier geht es jetzt nur noch um mich.
Ich schließe die Augen, mein Oberkörper schaukelt leicht, ich wiege mich zurück in jene schicksalhafte Nacht. Wie schön sie war, bis zu dem einen Moment. Aber an den will ich nicht mehr denken. Ich radiere ihn aus mit einem weiteren Schluck.
Wenn Maurice lacht, muss ich auch lachen. Er hat das schönste Lachen der Welt. Wir umarmen uns, stehen ganz eng umschlungen, erst auf der Wiese und dann im Bootshaus. Die Welt ist nur für uns da. Sein Kuss schmeckt süß und seine Hände sind so warm und weich. Nichts ist mehr wichtig, außer uns, außer diesem Moment. Und wenn ich jetzt sterben würde, weiß ich, ich habe wirklich gelebt.
Liebe braucht Mut, Mut, Mut klingt der Song durch meinen Kopf und es riecht nach Algen und seiner Haut. Am Hals ist sie warm und ein bisschen feucht und aus seinem Haar steigt der kräftige Duft des Holzkohlefeuers. So fühlt sich Glück an. Endlich weiß ich es.
Ich schwebe, schwebe davon, doch, nein, es ist kein Schweben mehr, eher ein Sog, ein Sog in einen dunklen Tunnel. Da hallt eine Stimme durch den Tunnel.
»Hast du deinen Zug verpasst?«
Ein Mann erscheint da im Tunnel. Irgendwas mit ihm stimmt nicht. Seine Augen… Meine Gedanken bleiben stecken, irgendwo in meinem Hirn, gefangen zwischen Synapsen und Zellen…
»Ja«, sag ich der Einfachheit halber und will mich an Maurice festhalten, doch meine Hände tasten ins Leere. Wie ist der Typ ins Bootshaus gekommen? Oder in den Tunnel?
»Komm, hier ist es doch viel zu kalt.«
Er will mir unter die Arme greifen, aber ich zucke zurück. »Nein!« Ich drücke etwas an mich, meine Tasche, ich drücke sie wie einen Teddy. Meine Finger fühlen sich ganz steif an, so fest habe ich sie umklammert. Als müsste ich sie gegen die ganze Welt verteidigen.
»Keine Angst, ich wollte dir nur helfen.« Er steht auf und klopft sich über die Hosenbeine, als habe er sich in den Schmutz gekniet. Sein linkes Augenlid ist weit nach unten gezogen, vielleicht von einem Unfall. Womöglich sieht er gar nichts mit dem linken Auge. »Wohin musst du?«
Was will er von mir? Ich antworte nicht. Das mit dem Auge irritiert mich.
»Okay, ich wollte dir wirklich nur helfen.«
Stimmt das? Ich weiß nicht, warum ich sage: »Nach Berlin.« Dabei bin ich doch immer noch im Bootshaus, aber wo ist Maurice?
»Der Zug ist vor ’ner Stunde gefahren«, sagt er entschuldigend, als könnte er was dafür. »Ich geb dir ’nen Imbiss aus.« Er macht eine abwehrende
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