Sommernachtsschrei
gekommen?«
»Du glaubst nicht, wie oft ich mich das in der Zelle gefragt hab.« Ich hole Luft. Ich muss raus hier, muss endlich gehen. »Also… ich pack mal zusammen.«
»Du kapitulierst also einfach so?«
»Ja. Ich war’s. Das ist mir in der kurzen Zeit hier klar geworden. Daran kann ich nichts mehr ändern.« Mein Selbstwertgefühl ist auf dem Nullpunkt angekommen. »Und ich hatte schon wieder diesen Blackout. Ich… ich kann nicht mehr, Leonie. Ich brauche Hilfe.«
»Aber… Ziska…« Leonie sieht mich aus ihren großen Augen an. »Du sollst wissen… dass… egal, was du getan hast… du bleibst… meine Freundin.«
Sie schlingt mir die Arme um den Hals. »Aber du hast ja vielleicht recht, wahrscheinlich ist es besser, etwas zu akzeptieren, als immer dagegen anzukämpfen, oder?«
In mir zieht wieder dieses lähmende Gefühl herauf. Mein Körper fühlt sich kalt und schwer an. Tief Luft holen. Es geht wieder. »Ich habe keine andere Wahl, wenn ich weiterleben will«, flüstere ich. »Wenn man sich selbst akzeptiert hat, mit all seinen Fehlern«, bringe ich hervor, »wenn man sich selbst liebt, dann erst kann man auch einen anderen Menschen lieben.«
»Ja, so heißt es in der Bibel, aber echt, ich weiß nicht, ob das stimmt.«
»Es stimmt«, sage ich.
Sie seufzt und nickt dann. »Dein Zug geht um zehn heute abend. Wir sollten dann langsam los.«
17
Während Leonie im Bad verschwindet, höre ich Nadia die Holztreppe nach unten gehen. Die Tür von Nadias Zimmer steht einen Spalt offen. Nadia ist total durchgeknallt! Hast du mal ihr Zimmer gesehen? Einen Moment zögere ich. »Nadia?« Keine Antwort. Ich klopfe. Nichts. Dann mache ich die Tür weiter auf. Ich zucke zurück. Chaos.
Rötliche Vorhänge filtern das Licht, die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchen das Zimmer in ein Blutrot. Überall, auf dem ungemachten Bett, auf dem modernen Ledersessel und auf dem schwarzen Teppichboden, liegen bergeweise Kleider, Unterwäsche, Schuhe, als hätte jemand einfach alle Schubladen ausgeleert. Der Schreibtisch mit dem Computer biegt sich unter leeren Bechern, Flaschen und Tellern.
Dann erst sehe ich die Poster. Zuerst denke ich, dass sie von Anfang an so waren, doch dann erkenne ich eines wieder und darauf hat Johnny Depp ganz sicher ein Gesicht. Und nicht nur eine weiße Fläche. Sie hat bei allen Personen die Gesichter mit weißer Farbe übermalt.
»He, wo bist du, können wir gehen?« Ich höre die Toilettenspülung und drehe mich um.
Leonie kommt an die Tür. »Ganz schön krass, was?« Sie lässt ihren Blick über die Poster wandern.
»Warum macht sie das?«, will ich wissen und starre wieder auf die gesichtslosen Poster.
»Warum?« Sie bückt sich, angelt aus dem Kleiderhaufen einen schwarzen BH. »Dieses Biest! Sieh dir das an! Der gehört mir!« Der BH baumelt an ihrem Zeigefinger. »Warum? Weil sie sich wichtigmachen will. Weil sie genau das will, was wir gerade jetzt tun: uns nämlich diese Frage stellen. Sie will im Mittelpunkt stehen. Ganz einfach. Was glaubst du, was mein Dad sich darüber Gedanken macht! Und genau das will sie erreichen. Das ist ihre Methode.« Sie zuckt die Schultern. »Leider ist sie in der Schule eine ziemliche Null. Damit kann sie Dad also auch nicht beeindrucken.«
Leonie war in Mathe sehr gut, so gut wie ich. Sicher ist ihr Dad, der Architekt, wahnsinnig stolz auf sie. Die arme Nadia, denke ich. Sie steht wohl in den Augen ihres Vaters immer im Schatten ihrer großen Schwester.
Ich hole meine Tasche aus dem Gästezimmer und sage Leonie, dass ich noch einmal kurz ins Badezimmer muss. Als ich fertig bin, gehen wir schweigend die Treppe hinunter und steigen ins Auto. Als der Kies unter den Reifen knirscht, weiß ich, dass es ein Abschied für immer ist. Ja, es ist besser so, denke ich, als ich mich auf dem Beifahrersitz zurücklehne und die Augen schließe.
Ich muss mein Leben in den Griff bekommen. Neu anfangen. Das haben andere doch auch geschafft. Aber bereits im nächsten Augenblick ist mir klar, dass ich mir nur selbst Mut zurede. Noch nicht mal siebzehn und schon gescheitert…, geht es mir durch den Kopf.
Wir gleiten durchs sommerabendliche Kinding, vor dem Venezia sind alle Tische und Stühle besetzt. Es ist noch warm draußen, auf den Tischen stehen Kerzen in kleinen bunten Gläsern. Unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die lachen und unbeschwert Eis essen. Und unvorstellbar, dass ich auch mal zu denen gehörte.
»Es wird alles gut, glaub mir«,
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