Sommernachtsschrei
nicht zum Parkplatz, sondern schlage die Richtung zum Ort ein. Von dort werde ich den Bus nach Prien nehmen, dann den Zug nach Köln.
Meine Schuhe sind durchnässt vom taufeuchten Gras, als ich über die Absperrkette steige und wieder auf Asphalt stehe. Der Himmel ist jetzt hellblau und ohne Wolken. Sie werden gutes Wetter haben, heute Abend, beim Sommerfest…
Ich müsste meine Eltern anrufen. Nicht jetzt. Viel zu früh, sage ich mir und weiß, dass das nur eine Ausrede ist. Ich werde sie anrufen, später, vom Bahnhof aus.
Die Metzgerei Moser gibt’s immer noch, stelle ich fest, als ich an den beschlagenen Schaufenstern vorbeigehe und ein Geruch nach warmer Wurst herausdringt. Nein, auf Wurst hab ich jetzt wirklich keine Lust.
»He, so ein Zufall!«
Ich drehe mich um. Noch bevor ich realisiere, wer da vor mir steht, sagt er schon: »Paula, stimmt’s?«
Benjamin, stimmt’s?, könnte ich sagen, doch ich starre ihn nur weiter an. Paula. So hab ich mich genannt.
»Ziemlich früh!« Er lacht gut gelaunt.
»Ja«, bringe ich heraus. Ich weiß nicht, was ich sagen, was ich fühlen soll. Ich bin ein Stück Eis oder Stein, etwas Lebloses, Totes, während er so voller Leben ist.
»Komm gerade aus München. Gestern war Stadtratsitzung. Die haben kein Ende gefunden, und wenn man dann schon mal die Nacht in der Großstadt ist… he, du blutest ja!«
Er sieht auf meine Hand, an der Fäden von getrocknetem Blut kleben. Einen Moment lang weiß ich selbst nicht, woher das kommt, doch dann fällt mir die Autofahrt wieder ein und die Wodkaflasche und der Typ mit dem schiefen Auge und der Himmelfahrtsnase – und dem blutenden Ohr.
Ich erschrecke und stecke schnell die Hand in meine Jackentasche. Da spüre ich das Papierknäuel. Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen. Ja, stimmt, oder? »Ach, nicht so schlimm«, sage ich.
»Sicher?«
»Absolut.« Ich ringe mir ein Lächeln ab.
»Ich muss gleich was frühstücken«, sagt er, »sonst kipp ich um. Kennst du das Café Rosa? Da soll’s die besten Croissants geben.«
Wieder nicke ich und ich komme mir vor wie ein Kind, das sich fürchtet, mit Erwachsenen zu sprechen. Wenn er wüsste, wer ich bin, wäre er anders zu mir. Ein Lächeln rutscht mir heraus, er erwidert es.
Er darf nie erfahren, wer ich bin.
»Man müsste viel öfter die Nacht durchmachen«, sagt er und streckt sich. »Gibt’s was Schöneres, als die Sonne wieder aufgehen zu sehen?«
Kann er Gedanken lesen? Ich nicke rasch. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch denke ich an die Schlaftabletten, die noch immer in meiner Reisetasche stecken…
Ich bin froh, dass ich ihm nicht meinen richtigen Namen gesagt habe. Ich bin Paula, sage ich mir, ein ganz normales Mädchen, deren schlimmstes Erlebnis im Leben bisher… eine Fünf in Deutsch war.
Wir lächeln uns zu, und als er fragt, ob ich mit ins Rosa frühstücken kommen will, sage ich Ja.
Erst jetzt realisiere ich, dass ich zurückgekommen bin. Wenn das, was wir tun, einem verborgenen Plan folgt, also, wenn es doch etwas außerhalb von uns gibt, das unser Schicksal lenkt, dann hat es einen Sinn, dass ich hier bin, sage ich mir. Ich hab nur noch nicht den blassesten Schimmer, welchen. Benjamin geht arglos neben mir her. Er wurde mir geschickt… vielleicht…
An dem herausgeputzten Bauernhaus mit den Waschbetonkübeln voller roter und lilafarbener Geranien steht in Schreibschrift: Café Rosa. Früher, in meinem alten Leben, bin ich öfter mit Leonie und den anderen hier gewesen, wenn wir von einem Ausflug aus München kamen.
Er hält mir die Tür auf, während das Bimmeln der Türglocke langsam verhallt. Ein plüschiges, altmodisches Café mit dem typischen Geruch nach Kaffee, Alte-Damen-Parfüm und frisch gebackenem Kuchen. Jetzt, am Morgen, mischt sich noch frischer Brötchenduft dazu.
Wir bestellen an der Theke und setzen uns an einen kleinen, runden Tisch am Eingang, drei der weiteren fünf Tische sind besetzt. Einer von zwei Frauen, die ihre Babys auf dem Schoß und die Kinderwagen neben sich geschoben haben, einer von einem einzelnen Mann, der sich hinter der aufgeschlagenen Süddeutschen verschanzt hat, den anderen Tisch nehme ich nur flüchtig als besetzt wahr.
»Hmm!« Er hat schon in sein Croissant gebissen. »Susanne Ritter hat recht gehabt!«
Mir stockt der Atem.
»He, alles okay?«
»Ja, klar!«, beeile ich mich zu versichern. Susanne Ritter, die Frau von Olaf Ritter…
»Kennst du Susanne Ritter?«
»Nein«, ich schüttle den
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