Sommernachtsschrei
Mittelfinger und lächelt. »Falls du mal eine tolle Neuigkeit hast, sag mir Bescheid. Dann hab ich vielleicht Chancen auf eine Beförderung!« Er lacht und fügt leise hinzu: »He, wir könnten heute zusammen auf die Sommerparty gehen, wenn du Lust hast!«
»Ich kann nicht, leider. Ich muss nach Hause«, sage ich wie ein Automat, nehme mechanisch die Karte entgegen und bringe noch ein Ciao heraus. Beim Hinausgehen stoße ich an den Schirmständer, der scheppernd umfällt. Auch das noch! Ich hebe ihn auf und mache, dass ich rauskomme.
Draußen atme ich tief durch. Meine Knie schlottern, meine Lippen zittern, mein Kopf dröhnt und hämmert, mein Mund ist trocken, meine Hände sind feucht. Mir ist schlecht.
Die Kanten seiner Visitenkarte schneiden mir in die Hand. Und wenn er weiß, wer ich bin? Auf einmal bin ich überzeugt, dass er es weiß. Warum sonst hätte er mir so viel von dem Fall erzählen sollen? Ich könnte zu ihm reingehen, ihm sagen: He, ich bin Franziska. Wenn du das wirklich ernst meinst, was du gerade über Claude gesagt hast, dann hilf mir, die Wahrheit rauszukriegen!
Noch sind es nur fünf, sechs Schritte zurück zur Tür…
Franziska! , meldet sich meine innere Stimme. Und wenn alles gelogen ist, nur damit er eine neue Story schreiben kann? Vielleicht war alles anders! Oder: Die Mörderin leugnet noch immer!
Er will mit mir auf die Sommerparty, weil er mitkriegen will, wie ich mich erinnere und wie die anderen reagieren! Ich öffne die Faust und lasse die Karte in den Rinnstein fallen.
21
Hinter dem Café Rosa zweigt eine Straße ab, die zum Supermarkt führt. Es ist heiß, die Wolkenschicht hält die Hitze wie unter einer Glocke. Vielleicht zieht ein Gewitter heran.
Und jetzt? Warum bin ich eigentlich noch hier? Steckt wirklich ein Sinn hinter meiner Begegnung mit Benjamin? Und was soll ich mit dieser Information über Claude anfangen? Was hat es mit dem Emblem auf der Jacke von Niederreiter auf sich? Ich weiß nicht, was ich tun soll, jedenfalls nicht weiter hier rumstehen.
Die Hauptstraße führt links durchs Neubaugebiet und dann an den See, rechts zur Bushaltestelle und zu unserer ehemaligen Tankstelle. Rechts oder links? Links oder rechts?
Nein, nicht zur Tankstelle – und nicht zur Bushaltestelle. Oder doch? Ich könnte den Ein-Uhr-Zug nehmen…
Die Sache von letzter Nacht lässt mich nicht los. Immer wieder habe ich die abgebrochene Wodka-Flasche vor Augen, wie ich sie diesem Typ an seinen Hals halte. Ich weiß, dass ich es getan hätte. Ich wäre dazu fähig gewesen, ihn umzubringen. Doch dann kommt mir wieder Claude in den Sinn. Immer wieder Claude… Selbst Benjamin scheint diese Option für möglich zu halten. Ich würde gerne aufhören können, mich an diese trügerische Hoffnung zu klammern, dass ich es vielleicht doch nicht war. Aber etwas in mir will sich noch immer nicht damit abfinden, dass das schwarze Loch noch genauso dunkel ist wie zum Beginn meiner Reise. Fürchte ich mich eigentlich vor der Erinnerung oder fürchte ich mich mehr davor, mich nicht zu erinnern…?
Aus der Vortasche meiner Umhängetasche dringt gedämpft Mamma Mia von Abba. Die Erkennungsmelodie für meine Mutter.
Auch das noch.
»Hallo, Mama!«, versuche ich so unbeschwert wie möglich herauszubringen. Sie will wissen, ob alles in Ordnung ist, wie es mir geht, wie meine Freundinnen sind und ob ich nicht doch lieber nach Hause kommen will. Heute. Jetzt.
Ich versichere ihr, dass alles super läuft, dass die Reise so wichtig für mich ist und dass meine Freundinnen zu mir stehen. Als wir auflegen, fühle ich mich schäbig.
Links, entscheide ich – nicht zur Bushaltestelle.
Ich wollte zur Sommerparty, um mich zu erinnern. Deshalb bin ich hergekommen. Also werde ich bleiben. Nur noch heute Nacht, dann fahre ich heim.
Ich laufe runter zum See. Meine Beine fühlen sich bleischwer an, meine Tasche hängt wie ein Sack Kartoffeln an mir, meine Kopfschmerzen quälen mich und ich bin so müde, dass ich sicher bin, schon gar nicht mehr einschlafen zu können.
Geh weiter, Franziska, nur nicht hier stehen bleiben und zusammenbrechen.
Auf der anderen Straßenseite stößt ein blauer Van vom Parkplatz, das Aufheulen des Motors hat mich aus meinen Gedanken gerissen. Dann erst sehe ich, dass ich vor der XS-Bar stehe, von der Leonie gesprochen hat. In die sogar Jungs aus München kommen. Was war letztes Jahr hier eigentlich gewesen? Ein Getränkehandel, stimmt. Bier-Berger hat ihn mein Vater immer genannt,
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