Sommernachtsschrei
ich weiß, dass du mich für verrückt hältst, aber lässt du mich noch mal die Karte von Maurice sehen?«
Während ich durch die Ratsgasse gehe, an deren Ende tatsächlich das Rathaus ist, führe ich ein fiktives Gespräch mit Leonie:
»Leonie, ich würde gern noch mal die Karte sehen, die dir Maurice geschickt hat.«
Pause, dann: »Warum?«
»Ich… äh… ich würde sie einfach gern noch einmal lesen, damit ich endlich einen Schlussstrich unter alles ziehen kann.«
Wieder Pause. »Du bist krank, Franziska, krank! Lass uns hier einfach in Ruhe! Wenn du dir dein Leben zur Hölle machen willst, bitte, aber halt uns da raus, ja!«
Tja, genauso würde es laufen. Ich erspare es mir. Es muss eine andere Möglichkeit geben. Und die gibt es, fällt mir plötzlich ein. Leonie sagte, dass Nadia vor dem Bootshaus gewesen wäre und alles gesehen und gehört hätte. Und angeblich hat sie ja mich ja auch gesehen. Aber stimmt das? Was, wenn sie zum Beispiel Claude gesehen hat… oder Franz Niederreiter?
Ich muss mit Nadia sprechen. Aber ohne dass Leonie etwas davon erfährt. Ich kann sie also auch nicht nach Nadias Handynummer fragen. Wenn ich nicht bis heute Nacht warten will, bleibt mir nichts anderes übrig als zu hoffen, dass Nadia zu Hause ist. Möglicherweise könnte ich ja auch so an die Postkarte kommen.
30
Glücklicherweise ist Kinding nicht besonders groß und das Haus von Leonies Eltern am Ortsrand ist zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen. Vivian wohnt nur zwei Straßen weiter am Waldrand. Nur der große Bauernhof, in dem Maya lebt, ist etwas weiter weg.
Während ich durch den Ort gehe, spüre ich die Blicke der Leute auf mir. Klar, jeder hat die Zeitung gelesen, jeder mein Foto gesehen. Die Blicke sagen: Das ist die Mörderin und sie wagt es, am helllichten Tag hier einfach in unserem Ort herumzuspazieren!
Auch ein paar aus meiner ehemaligen Klasse bin ich schon begegnet, sie haben mich angestarrt und nichts gesagt oder sie haben gleich weggeguckt. Angegriffen hat mich bisher noch niemand.
Ich versuche, das alles zu ignorieren. Es gibt Wichtigeres zu tun. Ich frage mich, was Leonie mit dieser Karte bezwecken wollte. Was weiß sie, was ich nicht weiß? Warum soll ich glauben, dass ich ein Motiv hatte? Oder bin ich tatsächlich krank und spinne mir hier gerade was zusammen?
Hinter den Häusern mit den Geranienbalkons sehe ich die alte Kastanie und daneben das obere Stockwerk von Leonies Haus aufragen. Es ist das modernste Gebäude hier im Ort, ein Wunder, dass es überhaupt genehmigt wurde, wo hier doch alle Häuser eher im Bauernhausstil gebaut sind.
Das Tor zur Einfahrt ist verschlossen, zögernd bleibe ich stehen. Doch meine Unentschlossenheit dauert nur einen Moment, dann sehe ich mich kurz um und schwinge mich darüber. Es ist niedrig und schlicht, ohne Zacken oder Spitzen, die einen zu durchbohren drohen.
Der Kies knirscht unter meinen Schuhen. Ein Geräusch, das mich immer an große Häuser und Reichtum erinnert. In den würfelartigen Gebäuden mit den breiten Glasfronten kann ich niemanden erkennen. Der Bambus und andere filigrane Büsche rauschen leise im sanften Wind, der gerade aufgekommen ist. Auf dem Teich kräuselt sich das Wasser. Ob die beiden schon zur Party unterwegs sind? Es ist zwar erst früher Abend, aber vielleicht helfen sie ja beim Aufbauen…
Ich klingle, höre den vollen, wohlklingenden Glockenton im Haus, warte. Plötzlich fällt mir ein, dass ja auch Leonie aufmachen könnte. Wieso hab ich daran nicht gedacht? Was soll ich ihr dann sagen?
Als sich nichts tut, drücke ich noch mal auf die breite weiße Taste, zähle langsam bis zwanzig. Wieder nichts. Und jetzt?
Vivian. Sie war immer die Vernünftigste. Ich muss wissen, ob Leonie ihr auch die Postkarte gezeigt hat. Und unter vier Augen erzählt sie mir bestimmt auch, was mit Nadia am Bootshaus los war. Ich schultere also wieder meine Tasche und laufe den Kiesweg zurück, klettere übers Tor und schlage den Weg zu Vivians Haus ein. Es liegt zwei Straßen weiter, am Ende einer Sackgasse. Dahinter beginnt ein Waldstück.
Mir läuft der Schweiß über die Stirn, tropft mir in die Augen und brennt. Meine Kleider kleben an meiner Haut fest. Das Blau des Himmels hat sich verdüstert. Hoffentlich regnet es nicht noch.
Jetzt stehe ich vor dem Anwesen der Fabers. Zwei große Eichen und zwei Betonlöwen bewachen den Eingang des dreistöckigen Hauses mit den Säulen vor dem Eingang. Sieht aus wie das Haus von reichen Südstaatlern in
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