Sommernachtsschrei
amerikanischen Filmen. Freiwillig mag man da nicht reingehen. Das wuchtige Eisengittertor wirkt auch nicht gerade einladend. Ebenso wenig die Überwachungskamera, die sich auf mich richtet, nachdem ich die Klingel gedrückt habe.
»Ja bitte?« Die Stimme hat einen Akzent. Irgendwas Slawisches.
»Ist Vivian da?«
»Wer sind Sie?«
»Eine Freundin. Franziska.«
»Moment.«
Es dauert und dauert und dauert, bis endlich das Tor zurückfährt und ich über einen schnurgeraden Waschbetonweg zum Haus gehe. Obwohl es erst dämmert, ist schon die Beleuchtung angesprungen und erhellt die ganze Hausfassade. Keine Fliege würde ungesehen zur Tür kommen. Erst recht kein Einbrecher.
Vivian steht in der Tür, im Strahl der Eingangslampe sieht ihr struppiges rotes Haar aus wie Feuer. Die Arme hält sie vor der Brust verschränkt. Ihre dünnen Beine fallen in den Shorts noch mehr auf. Ihre blaue Kapuzenjacke endet knapp über dem Nabel, aus dem ihr Piercing herausblitzt.
»War nicht gerade toll von dir, wieder zurückzukommen, ohne uns was zu sagen«, fängt sie an, ohne mich zu begrüßen.
»Ich weiß, ja, aber ich konnte nicht anders.«
Sie sagt weder Ja noch nickt sie oder zeigt, dass sie das versteht.
»Und, was gibt’s so Dringendes? Ich wollte gerade los zur Sommerparty.«
Hinter ihr sehe ich die Eingangshalle, die mich unwillkürlich an einen Kühlschrank denken lässt. Nein, hier wollte ich nicht wohnen. Makellos weißer Marmorboden, auf dem jeder Schritt bestimmt klingt, als liefe man über Eis. Weiße Wände mit großformatigen Gemälden. Alle in Weiß und Beige gehalten. Ich erinnere mich, dass Vivians Eltern auch nur weiße, graue und beige Klamotten trugen, und beide haben weißes Haar. Kein Wunder, dass Vivian sich schrill anzieht…
Ich räuspere mich, versuche, Zeit zu schinden, was Unsinn ist, denn es ändert nichts an der Situation. Egal was ich sage, egal wie ich es anstelle – ich frage hinter Leonies Rücken…
»Weißt du was von der Karte, die Maurice Leonie geschickt haben soll?«, fange ich an, während meine Hand die Karte in meiner Hosentasche berührt.
»Diese Verabredungskarte?«
Ich nicke.
»Wieso geschickt haben soll?« Vivian sieht mich argwöhnisch an.
»Na ja, es ist eine Karte von der XS-Bar. Du weißt schon, das Cocktailglas mit der Zitronenscheibe – alles im Neonlook auf schwarzem Hintergrund«, erkläre ich in harmlosem Ton.
»Und?« Sie sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Die XS-Bar gibt’s erst seit einem Monat.«
»Was willst du damit sagen?« Sie legt den Kopf schief, runzelt die Stirn. Tut sie nur so begriffsstutzig oder hat sie es wirklich noch nicht begriffen?
»Vivian, die XS-Bar gab es vor einem Jahr noch nicht. Woher sollte Maurice also die Karte gehabt haben?«
Ihr Blick bleibt auf mich gerichtet. Will sie mein Gehirn röntgen? »Ja, woher? Warum fragst du Leonie nicht, wenn es dir so wichtig ist?«
»Ich glaube, sie ist nicht gerade gut auf mich zu sprechen.«
»Aha, und da hast du gedacht, dass du mich einspannen kannst?«
»Nur wegen dieser Sache – und wegen Nadia.«
»Nadia?« Vivians Augen werden noch schmaler. Ihr rotes Haar und das helle Außenlicht lassen ihre Haut ganz blass erscheinen. So habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Im Schulflur, bei Neonlicht.
»Ja«, sage ich. »Stimmt es wirklich, dass Nadia am Bootshaus war und alles mitgekriegt hat?«
Sie legt den Kopf schief und mustert mich. »Hm. Weißt du, was ich mich frage, Franziska?«
»Was?«
»Ich frage mich, ob dir Freundschaft eigentlich gar nichts bedeutet.«
»Aber natürlich! Sie bedeutet mir sehr viel!« Was redet Vivian da?
»Ach, und du unterstellst deiner besten Freundin, die dir Briefe ins Gefängnis geschrieben und dich hier aufgenommen hat, dich zu betrügen oder zu belügen? Hab ich das richtig verstanden?« Vivian stemmt die Arme in die Taille und ihre blaue Kapuzenjacke schwingt auf. In dem Moment blitzt etwas darunter auf.
Mein Gott … gebannt starre ich auf das silberne Emblem. Kein Pferd! Ein Einhorn! Ich kenne das dunkelrote Top. Es ist nicht neu. Und ich kenne das silbrige Motiv auf der Vorderseite. Sie hat es bei unserem Konzert auf der Sommerparty getragen… vor einem Jahr.
Das weiße Ruder fliegt durch die Dunkelheit auf mich zu. Ich ducke mich, das Ruderblatt streift mich nur, schleudert mich aber rückwärts auf den Boden vor das Ruderboot. »Maurice!«, höre ich mich noch schreien. Als ich wieder aufwache, habe ich das Ruder fest
Weitere Kostenlose Bücher