Sommernachtszauber (German Edition)
wenn der, der verfügen sollte, gar nicht verfügen konnte? Sein Schweigen war Antwort genug auf ihren Ausbruch. Es sagte ihr damit alles und lähmte sie.
Im Foyer hielt Caroline inne und sah durch das ganze gewundene Treppenhaus nach oben. Sie musste dazu den Kopf in den Nacken legen und ihr wurde vor Müdigkeit, Aufregung und Sehnsucht leicht schwindelig. Wann war sie mit ihm dort hinaufgeflogen, fest in seinen Armen, voll Furcht und doch Gewissheit, das Richtige zu tun? Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
Wo war Johannes? Weshalb gab er ihr keine Chance, mit ihm zu reden und ihm zu erklären, wie das alles gekommen war? Saß er oben auf dem Dach? Ruhte er unter dem Segel des
Fliegenden Holländers?
Oder war er hier, direkt neben ihr, ohne dass sie es ahnte? Sie fuhr herum, doch hinter ihr stand nur Simone, die auch eben gekommen sein musste.
»Was ist denn in dich gefahren, Caroline? Du siehst aus wie ausgespuckt. Packst du das alles?«
Caroline nickte. JA. Eine bessere Art, Johannes zu zeigen, wie leid ihr alles tat, gab es nicht. Sie wollte die Julia nur für ihn spielen. Alles an ihr in dieser Rolle war Geschenk für ihn: Jedes Wort war eine Nachricht, jede Geste ein Geheimnis, das sie teilten. Auch wenn es zwei Tage, 15 Stunden und etliche Minuten her war, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er
musste
da sein!
»Komm jetzt. Wir schaffen das«, sagte Simone und hängte sich mit ihrem weißen pummeligen Arm bei Caroline ein.
»Ja. Wir schaffen das.« Aber wie nur? In ihr brodelte mit einem Mal wieder dieser altbekannte Cocktail aus Trotz, Schüchternheit und nackter Angst.
»Oh, lieber als dem Grafen mich zu vermählen,
heiß von der Zinne jenes Turms mich springen,
da gehen, wo Räuber streifen, Schlangen lauern,
und kette mich an wilde Bären fest;
bring bei der Nacht mich in ein Totenhaus
voll rasselnder Gerippe, Moderknochen,
und gelber Schädel mit entzahnten Kiefern;
heiß in ein frisch gemachtes Grab mich gehen,
und mich ins Leichentuch des Toten hüllen.
Sprach man sonst solche Dinger, bebt’ ich schon;
doch tu ich ohne Furcht und Zweifel sie,
des süßen Gatten reines Weib zu bleiben!«
Caroline streckte verlangend die Hände aus. Ihre Finger zitterten, in ihren Armen schmerzten Sehnen und Muskeln. Dann endlich fühlte sie das kühle Glas und hielt es an die Brust gedrückt, eine Phiole voll Schlaftrunk, der sie 24 Stunden lang wie tot schlafen lassen sollte. Lang genug für den Mönch Lorenzo, um den nach Mantua geflohenen Romeo von der Täuschung ihrer beiden Familien in Kenntnis zu setzen. Er würde kommen, er würde bei ihr sein. Sie würden gegen alle Widerstände zusammen sein. Ein großes, glückliches und langes Leben miteinander.
Johannes.
Caroline ließ sich auf die Knie fallen und presste die Phiole an ihre Brust. Sie fühlte den rauen Stoff ihres eigenen, ausgeblichenen Jeanshemdes, und ihr bodenlanger Lederrock, den Mia für die Requisite auf eBay erstanden hatte, dämpfte den Aufprall. Sie ließ den Kopf mit den nun zerrauften offenen Haaren nach vorn fallen. Alles an ihr war wild, mutig, entschlossen – sie war nicht mehr die Julia, die Romeo als unschuldige Jungfer zart in einem weiß-rot gemusterten Pucci-Kleid betörte. Sie trug kein verführerisches Seidennachthemd auf nackter Haut, wie noch nach der ersten Liebesnacht mit ihm und in der Morgenszene. Julia hatte sich Romeo hingegeben, ihrer großen und einzigen Liebe, und war fest entschlossen, dies keinem anderen Mann zu gewähren.
Ihre Finger krampften sich um die Phiole, und sie fuhr zu Lorenzo herum, der ängstlich auf ihre nächsten Worte wartete:
»Gib mir! Oh, gib mir! Rede nicht von Furcht!«
Er nickte und verschwand in die Schatten der Kulissen, als er noch sagte:
»Nimm, geh mit Gott, halte fest an dem Entschluss. Ich send indes mit Briefen einen Bruder in Eil nach Mantua zu deinem Treuen.«
Caroline senkte erst den Kopf und sah dann ins Dunkel des Zuschauerraumes, wo morgen Hunderte von Augenpaaren jedem ihrer Worte, jeder ihrer Bewegungen folgen würden. Dort, rechts vorn, würde Mickey Hansen sitzen. Sie nahm sich zusammen und zwang sich, daran zu denken, was auf dem Spiel stand: einfach alles.
Wo war nur Johannes? Wie sollte sie das ohne ihn durchstehen? Ihre Frage an ihn, die Frage nach dem
Warum
hatte sie so lange gequält, dass sie letzten Endes einfach aus ihr herausgebrochen war. Sie schämte sich. Zog er sich nun für immer zurück? Das konnte sie nicht glauben.
Ich bin immer da,
hörte
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