Sommerprickeln
Genugtuung, die Umzugskartons auseinanderzufalten und zusammenzustecken, sie zu füllen und ein langes Klebeband über die Laschen zu ziehen, damit sie sich nicht von selbst öffneten.
Von der Küche ging sie ins Wohn-Esszimmer. Sie stellte einen Karton vor das Bücherregal und begann, die Bücher mit Schwung aus den Regalen zu fegen. Etwas rutschte aus einem der Bücher und flatterte zu Boden.
Als Annajane es aufheben wollte, hielt sie inne. Es war ein Foto, ein alter Schnappschuss von Mason und ihr, wie sie auf der Treppe vor dem Haus am See saßen, Arm in Arm.
Sie ließ sich zu Boden sinken und betrachtete das Bild. Wie jung sie aussahen! Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trug ein schulterfreies rosa Top mit weißen Punkten und eine weiße Shorts, war sonnengebräunt und hatte Waschbärenaugen von der Sonnenbrille. Ihr Mund war weit geöffnet, sie lachte. Mason war ebenfalls gebräunt, trug kein Oberteil, seine Brille verdeckte seine Augen, aber sein Lächeln war so breit wie das von Annajane. Das Foto trug kein Datum, aber sie wusste, dass es aus ihrem ersten gemeinsamen Sommer stammen musste, als sie neunzehn gewesen war. Seltsam, dieses Top kannte sie noch, sie hatte es für sechs Dollar im Ausverkauf bei Gap erstanden, doch an den Tag und die Umstände dieser Aufnahme konnte sie sich nicht mehr erinnern. Höchstwahrscheinlich hatte Pokey sie gemacht.
Andere Bilder von ihnen zusammen gab es nicht mehr. An dem Tag, als ihre Scheidung rechtskräftig wurde, hatte Annajane alle verbrannt. Sie hatten für ein schönes Feuerchen in dem verrosteten alten Grill im Garten ihrer Mutter in Holden Beach gesorgt. Wie hatte dieses Foto bloß das Feuer überlebt?, fragte sie sich.
Eigentlich war es egal. Annajane stand auf und schob das Bild ins Buch zurück, doch anstatt dieses in den Karton zu den anderen zu legen, ging sie ins Schlafzimmer und deponierte es auf ihrem Nachttisch. Dann überlegte sie es sich anders und schob es unter das Kopfkissen.
Anschließend griff sie zum Telefon und rief Shane an. Er meldete sich mit rauer Stimme.
»O nein!«, flüsterte Annajane. »Du hast schon geschlafen! Ich dachte, du wärst gerade von deinem Gig zurück. Das tut mir leid. Geh wieder ins Bett. Ich rufe morgen früh noch mal an.«
»Nein, nein«, sagte Shane. »Leg nicht auf, Schatz! Ist schon gut. Ich war noch gar nicht im Bett. Bin wohl vorm Fernseher eingeschlafen. Wie viel Uhr ist es?«
»Nach drei«, sagte sie.
»Wieso bist du noch wach?«, wollte Shane wissen. »Stimmt was nicht?«
»Doch, doch. Es ist alles gut«, beeilte sie sich zu sagen.
Gelogen, gelogen! , foppte sie ihr Unterbewusstsein.
»Ich wollte nur deine Stimme hören«, sagte sie, und das zumindest traf zu.
Es war Shanes tiefe, schmelzende Stimme gewesen, die Annajanes Herz erobert hatte, als sie sich kennenlernten.
In jenem September hatte sie ihre Mutter in Holden Beach besucht. Nachdem sie zwei elendig lange Abende Glücksrad und Wiederholungen von Golden Girls im Fernsehen gesehen hatten, ging Ruth am dritten Abend um neun ins Bett, und Annajane setzte sich aus Verzweiflung ins Auto. Sie kurvte durch die Gegend, entdeckte das Schild des Holiday Inns und stellte fest, dass es dort eine Bar gab. Da ihre Mutter strikt abstinent lebte und nie Alkohol im Haus hatte, beschloss Annajane aus einer Laune heraus, in die Bar zu gehen und dort etwas zu trinken.
Wie sich herausstellte, war die Sandpiper Lounge die angesagte Nachtbar der Einheimischen. An jenem Abend spielte eine Band namens Dandelion Wine, und die Bar war zum Bersten voll. Annajane ergatterte einen Platz in der Nähe der Theke und trank langsam ein Glas Wein. Die Gruppe spielte hauptsächlich Bluegrass, dazu ein bisschen Country und Rockabilly, das sie zu ihrer eigenen Überraschung sogar mochte. Vor der Bühne standen zwei lange Tische, beide voller Frauen, vielleicht zwei Dutzend, die sich alle untereinander und die Band zu kennen schienen. Altersmäßig lagen sie zwischen Anfang zwanzig und sechzig, sie tranken und hatten einen Riesenspaß, sangen jedes Lied mit, juchzten und beklatschten ihre Lieblinge. Der Sänger, der auch Dobro spielte, schien der Beliebteste zu sein.
Warum auch nicht? Er war groß und schlank, hatte dunkelbraune Locken und tiefe dunkle Augen. Er hatte Grübchen in den Wangen und einen Dreitagebart, trug ein verblichenes kariertes Flanellhemd und Jeans mit abgewetzten Knien.
Wenn er ein Lied anstimmte, jubelten die Frauen und riefen seinen Namen:
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