Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
trösten. Alles war zerstört, das Schloss, die Häuser darum herum, die Bäume, nichts weiter als ein einziger großer Geröllhaufen. Bevor sie hierhergekommen war, hatte sie nicht im Sinn gehabt, an diesem Ort Antworten zu finden. Sie wollte nur sehen, was geschehen war und ob es nicht vielleicht doch noch etwas gab, das man retten konnte. Aber noch nicht einmal ein einziges Buch der großen Bibliothek hatte den Angriff unbeschadet überstanden. Vielmehr hatte es den Anschein, als wären alle Werke zusammengetragen und aus ihnen ein großes Feuer gemacht worden. Als hätten sie es sich in den Kopf gesetzt, jede Art von Literatur, alle jemals geschriebenen Worte für alle Zeiten aus dieser Welt zu verbannen. Doch wenn sie hier schon so unbarmherzig gewütet hatten, wie stand es dann um die Weltenbibliothek?
Arrow schreckte hoch und rang nach Atem. Der letzte Gedanke hatte sie unsanft aus ihrem Schlaf gerissen, denn zu dem Zeitpunkt, da sie zur Blauen Lady geworden war, war Keylam noch immer nicht zurückgekehrt. Und allein die Vorstellung, ihn nun auch noch in dieser Welt verloren zu haben, legte sich wie eine messerscharfe Schlinge um ihr Herz.
Sie sah sich um und fand sich an dem Ort wieder, an dem sie ihren neuen Platz eingenommen hatte, doch es war so finster, dass sie kurz davor stand, in Panik zu versinken. Wo waren die anderen? War hier vielleicht etwas vorgefallen, das ihrer aller Schicksal inzwischen besiegelt hatte?
Eine Hand packte sie an der Schulter und obwohl sie sich warm und vertraut anfühlte, zuckte sie vor Schreck zusammen.
„Keylam“, flüsterte sie ergriffen, als sie in die Augen des Mannes sah, den sie so lange schon herbeigesehnt hatte.
Ungläubig berührte sie mit ihren Fingerspitzen seine Wange, strich ihm über sein Gesicht und durch sein Haar. Und als sie das Gefühl überkam, diesen Augenblick nicht vergeuden zu dürfen, umschlang sie seinen Nacken und küsste ihn, als wäre es das allererste Mal.
„Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen“, flüsterte sie schließlich mit zitternder Stimme und schlang ihre Arme um seinen Körper. Dann begann sie zu weinen und ihre Tränen liefen ihm tröstend wie warmer Morgentau über den Rücken.
„Du weißt doch, dass eine Lady nicht weinen sollte“, sagte er und strich ihr dabei zärtlich über den Körper.
„Sprich nicht ständig diese Worte“, schluchzte sie. „Ich weine, wann immer ich das Gefühl habe, es tun zu müssen, ganz besonders dann, wenn meine Tränen denen gelten, die ich liebe.“
Behutsam löste er sich aus der Umarmung und schaute ihr tief in die Augen. „Aber ich habe es dir gerade zum ersten Mal gesagt.“
„Nein, das hast du nicht. Und als du es zuletzt getan hast, hast du sterbend in meinen Armen gelegen.“
Keylam musterte sie fragend und strich ihr liebevoll über den Kopf. „Du hast einen schlimmen Traum gehabt und bist durcheinander. Doch jetzt bist du daraus erwacht und musst dich nicht länger fürchten.“
„Eine Lady träumt nicht, Keylam. Sobald ich in den Schlaf sinke, erhebt sich mein Geist über die Welt und ich sehe, was in ihr vorgeht. Das, was ich gerade berichtet habe, ist wirklich geschehen.“
Keylam runzelte die Stirn und bevor Arrow ihn noch mehr verwirren konnte, erzählte sie ihm vom Sumpf der Erinnerungen, von dem anderen Keylam, der einst aus so unzähligen Gedanken und Emotionen erschaffen worden war, dass er sich zu einem eigenständigen Wesen entwickelt hatte, und davon, dass ihr Herz gleichermaßen an dem Keylam dort wie auch an ihm hing. Sie wusste nicht, ob es wichtig war, ihrem Ehemann all diese Dinge anzuvertrauen, doch sie hatte das Gefühl, es tun zu müssen. Andernfalls, so glaubte sie, würde es sie zerreißen, um jemanden zu trauern und diese Emotionen vor ihm verbergen oder ihn belügen zu müssen.
„Bitte, sag etwas“, flehte sie ihn an, als er zurückwich.
„Ich habe es gefühlt“, sagte er nachdenklich.
„Keylam, ich wollte dich nicht verletzen. Nichts liegt mir ferner als das, aber er war nie jemand anderes als du, ein Echo von dir. Wenn ich ihm in die Augen gesehen habe, habe ich dich darin wiedergefunden und es war so unglaublich schwer, ihn nicht zu lieben. Ich habe es versucht, doch es war ein Kampf, den ich verloren habe bevor er begonnen hat.“
„Das meine ich nicht“, sagte er abwesend. „Ich habe gespürt, dass etwas geschehen ist. Dass ein Teil von mir zurückgekehrt ist, der so lange schon verloren war, dass ich ihn ganz vergessen
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