Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Bein, denn so, wie sie sich bewegte, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Gerade, als sie sich zu ihr umdrehte, erkannte Arrow noch, dass es sich um einen Mann handelte, der, für seine spiegelglatte, helle Haut, einen auffällig langen weißen Bart besaß. Die Kälte schien ihn nicht zu stören, denn über seinem Gehrock trug er keinen Mantel und machte auch keine Anstalten, zu frieren. Doch was sie am meisten beunruhigte, waren seine pechschwarzen Augen, die sie sogar noch über die nicht ganz unbeträchtliche Entfernung ausmachte. Schnell verschwand sie wieder hinter dem Felsen. Von diesem Mann ging eine Gefahr aus, das spürte sie, und wenn er sie entdeckte, wüsste sie nicht, wie sie ihm hier entfliehen konnte.
„Etwas scheint dich zu beunruhigen“, bemerkte Emily. „Ist es wegen dem Elfen, der dort drüben steht?“
„Du weißt, dass es ein Elf ist?“, fragte Arrow erstaunt.
Das Mädchen nickte. „Er hat mich von dem Loch abgelenkt, das ich während des Fluges dort hinten entdeckt habe.“ Sie wandte sich um und zeigte auf den Nachbarberg.
Arrow überlegte. Noch fiel so viel Schnee, dass sie eine Chance hatten, den Eingang unbemerkt zu erreichen, wenn sie schnell genug flog. Ob sie wohl vorher noch einmal einen Blick riskieren sollte? Es wäre einfacher für sie, die Situation einzuschätzen. Vielleicht verweilte er noch an Ort und Stelle und suchte wieder nach den Spuren. Vielleicht wartete er aber auch darauf, dass ihr Kopf hinter dem Versteck vorlugte. Dies zu riskieren erschien ihr zu gewagt, also schnappte sie kurzerhand einfach nach dem Mädchen und setzte zum Sprung an.
„Siehst du?“, fragte Emily im Flug. „Dort ist es.“ Und bevor sie sich versah, waren sie auch schon im Tunnel.
Den ganzen Heimweg über hatte Arrow die Frage, was wohl passieren würde, wenn sie Emily versehentlich losließe, vollkommen ausblenden können. Doch jetzt, als sie sich mit ihr in dem engen Schacht befand, tauchte sie plötzlich auf. Aber was sollte schon großartig geschehen? Emily war ja schon tot und irgendwie würde sie sie wieder dort hinaus bekommen. Geister hatten eben ganz andere Möglichkeiten als Lebende, was sich schon allein an Emilys hervorragender Beobachtungsgabe zeigte.
Als sie endlich wieder im Untergrund ankamen, ließ Arrow sich schnaufend zu Boden sinken. Doch es war weniger die Anstrengung der letzten Meter, die ihr zu schaffen machte, als vielmehr die Tatsache, wie glücklich sie darüber war, wohlbehalten zurück zu sein.
Das Maul des Wolfskopfes schloss sich unterdessen wieder und er verschwand wie von Zauberhand in der Wand. Das sollte wohl bedeuten, dass der Schacht nun wieder verschlossen war und der Elf, so er ihn bisher nicht entdeckt hatte, jetzt nicht mehr ausfindig machen konnte.
„Unheimlich“, bemerkte Emily angespannt.
„Du musst dich nicht sorgen“, versuchte Arrow, sie zu beruhigen. „Jetzt sind wir vor dem Elfen in Sicherheit.“
„Er ist es gar nicht, den ich fürchte, sondern der Wolfskopf.“
Arrow blickte zur Wand hinauf, an der sich eindeutig keine Umrisse mehr abzeichneten. Nichts deutete mehr auf die Skulptur hin, die gerade noch daraus hervorgelugt hat.
„Wölfe sind mir nicht geheuer“, erklärte das Mädchen, „genau wie Hunde. In ihrer Gegenwart fühle ich mich nicht wohl.“
„Aber er war nicht echt“, entgegnete sie skeptisch.
„Und trotzdem hat er sich bewegt. Manchmal haben Ängste ein solches Ausmaß, dass schon allein die bloße Andeutung dessen, was sie auslöst, vermag, den Verängstigten erzittern zu lassen.“
Arrow musterte sie irritiert. Sie fühlte sich in der Zwickmühle, denn wenn Emily sich allein von der Skulptur beunruhigen ließ, mochte sie sich lieber nicht ausmalen, was bei ihrer ersten Begegnung mit den echten Wölfen geschah.
„Unglaublich“, hauchte Emily mit großen Augen, als sie sich von Arrow abwandte und die Eistunnel mit den darin eingefrorenen Feuerchen erblickte. „Von diesem Ort habe ich schon einmal gehört. Meine Großmutter hat mir davon berichtet. Es ist der Platz, an dem die Unschuld zur letzten Ruhe gebettet wird.“
„Das ist richtig“, entgegnete Arrow erstaunt. „Du scheinst viel mehr über deine unmittelbare Umgebung zu wissen, als das gewöhnliche Auge verzeichnen kann.“
„Für einen Geist ist das normal ... denke ich ...“
„Dann war es also nichts Außergewöhnliches für dich, dass du auf Anhieb diesen Schacht entdeckt und ebenso schnell erkannt hast, dass der Mann dort oben
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